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Vorstellungen sind bei allen Völkern die Sagen von Verwandlungen hervorgegangen, bei keinem Volke in grösserer Fülle und in reicheren Formen als bei den Griechen, die, zu sinnlich schöner Gestaltung vor Allen getrieben und befähigt, in den Verwandlungen den gefügigsten Stoff für ihre dichterische Phantasie fanden. So erblicken wir in Griechenland eine zahllose Menge von örtlichen Verwandlungssagen, die Verwandlungen sind ein Element der gesammten Mythologie und Poesie der Griechen. Zum Gegenstande eines eigenen Gedichtes nahm sie in unbekannter Zeit ein Dichter Boios, der in einer Ornithogonie die Entstehung der verschiedenen Vögel aus Menschen erzählte: das Gedicht war so alt dass Einige es einer halbmythischen Dichterin Boio zuschrieben. In der alexandrinischen Zeit, deren gelehrte Poesie es liebte ihre Stoffe didaktisch zusammenzufassen, dichtete Nikandros von Kolophon (im zweiten Jahrhunderte vor Christus) fünf Bücher von Verwandlungen (Eregoιovueva). Sie sind verloren; aber die von dem Mythographen Antoninus Liberalis daraus entnommenen Erzählungen lehren dass Ovidius dieses Werk benutzte und machen es wahrscheinlich dass er ihm zum Theil auch in der Zusammenfügung der Erzählungen folgte. Metamorphosen hatte auch ein griechischer Dichter Parthenios von Nikäa verfasst, der nach der Einnahme seiner Vaterstadt (681 73 vor Chr.) nach Rom geführt ward und bis zur Herschaft des Tiberius lebte.

Das Verhältniss der ovidischen Metamorphosen zu diesen und anderen dichterischen und prosaischen Erzählungen, wie zu der Ornithogonie des römischen Dichters Aemilius Macer, mit dem Ovidius als Jüngling verkehrte, überhaupt der Umfang und die Art der Studien, auf die der Dichter sein Werk gründete, lässt sich aus den Trümmern der griechischen und römischen Litteratur nicht erkennen. Ausgerüstet dazu, auch dem Stoffe nach, war er schon durch seine gesammten poetischen Studien: denn für seine Poesie, wie für die der übrigen römischen Dichter, war Belesenheit in den Werken der griechischen Litteratur eine nothwendige Bedingung. Auf die Benutzung von Werken über die Verwandlungen hat er sich nicht beschränkt, vielmehr überhaupt aus der epischen Poesie und aus der tragischen, besonders der des Euripides, Gewinn zu ziehen gewust, das Entlehnte und Nachgeahmte aber durch die Freiheit der Behandlung zu seinem Eigenthume gemacht.

Er reiht, durch kleine Widersprüche und Anachronismen

mit Recht ungestört, seine Erzählungen an einem chronologischen Faden auf; sie mit einander zu verbinden findet er immer neue Kunstgriffe, wenn auch diese Verbindung der Natur der Sache nach oft nur eine äusserliche sein konnte; durch den Wechsel des Inhaltes, indem er auf düstere und grässliche Bilder gern die anmutigsten und lieblichsten folgen lässt, durch die Erfindsamkeit mit der er die eigene Erzählung mit Erzählungen der Personen, die er auftreten lässt, durchflicht, durch bald raschen, bald verweilenden Gang der Darstellung, weiss er den Reiz seines Gedichtes immer frisch zu erhalten.

So führt er seine Leser von der Gestaltung der Welt aus dem Chaos durch eine lange Reihe mannigfaltiger Erzählungen und Schilderungen, die zuletzt zu römischen Sagen übergehen und in der Verherrlichung des Julius Caesar einen befriedigenden Schluss finden.

Ueberliefert sind uns die Metamorphosen nicht ohne arge Entstellung, indem selbst in den besten der bis jetzt bekannten Handschriften, von denen keine über das elfte Jahrhundert hinaufreicht, sich willkürliche Aenderungen und Zusätze finden. Diese Verderbniss ist zum Theil früh entstanden: denn die noch im Alterthume, wenn auch in der spätesten Zeit desselben, verfassten Inhaltsangaben des Lactantius Placidus (oder, wie er wohl auch genannt wird, Lutatius Placidus) beruhen auf einem Texte der von unechten Zusätzen nicht frei war.

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P. OVIDII NASONIS

METAMORPHOSEON

Metam. I.

LIBRI XV.

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Orba parente suo quicumque volumina tangis,

his saltem vestra detur in urbe locus. quoque magis faveas, non sunt haec edita ab ipso, sed quasi de domini funere rapta sui. quidquid in his igitur vitii rude carmen habebit, emendaturus, si licuisset, eram.

Ova trist. 1, 7, 35-40.

P. OVIDII NASONIS

METAMORPHOSEON

LIBER I.

In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illas)
adspirate meis, primaque ab origine mundi
ad mea perpetuum deducite tempora carmen.

Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum
unus erat toto naturae vultus in orbe,
quem dixere chaos; rudis indigestaque moles,
nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem
non bene iunctarum discordia semina rerum.
nullus adhuc mundo praebebat lumina Titan,
nec nova crescendo reparabat cornua Phoebe,

2. nam vos mutastis et illas: gedrängter Ausdruck, denn wie alles Andere so sind auch diese Verwandlungen euer Werk.'

3. adspirate: der bildliche Ausdruck ist von günstigem Fahrwinde genommen.

5-20. Vor der Weltschöpfung ein Urstoff. Den bestimmten Gedanken einer Welterschaffung aus dem Nichts spricht keine heidnische Mythologie aus. Nahe steht ihm nach der etymologischen Wortbedeutung die hesiodische Vorstellung des zuerst entstehenden Chaos. Χάος, aus der Wurzel von χαίνειν, der gähnende Raum. Ebenso setzt der altnordische Mythus vor die Erschaffung von Meer Erde und Himmel einen gähnenden Abgrund. Aber mit dieser Bedeutung von chaos

verband sich später die einer ungeordneten, durch keine Form begrenzten Masse. Ov. A. am. 2,467 prima fuit rerum confusa sine ordine moles, unaque erant facies sidera terra fretum.

10-14. Die Götternamen Titan, Phoebe, Amphitrite bezeichnen durch Prosopopöie Sonne Mond und Meer. Aber, wie häufig, die Vorstellung schwebt zwischen Personlichkeit und Unpersönlichkeit; hei tellus tritt, wie die Ausdrücke zeigen, die Einkleidung in Persönlichkeit ganz zurück. Das Versende hebt alle vier Wörter gleichmässig hervor. Die Titanen sind die Kinder des Uranos (Caelus) und derGäa (Tellus): der Sonnengott ("Hatos, Sol) heisst Titan als Sohn des Titanen Hyperion (vgl. zu 395). Poíßn ist

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