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Alle, die sich die Sache genau angesehen haben, von der Richtigkeit der Lachmannschen Paginirung überzeugt sein. Einverstanden werden sie sein mit folgenden Annahmen Lachmanns: 1. die Originalhandschrift enthielt Seiten von gleicher Zeilenzahl; 2. die Seiten, welche die 98 Verse von 75, 1-87, 4 enthielten, folgten in jenem Codex in einer solchen Ordnung aufeinander, dass v. 75,1 unmittelbar an v. 87,4 sich anschloss, und ferner waren jene Seiten mit diesen 98 Versen vollständig ausgefülltes standen keine anderen Verse mehr darauf. Aber die Zeilenzahl 30, welche Lachmann aus diesen beiden Annahmen gefolgert hat, unterliegt mehreren Bedenken. Dieselben beziehen sich weniger auf die den 98 Versen vorausgehenden Partien, obwohl sich auch hier wenigstens der Zusatz von 6 Versen zu carm. 65 als mehr denn problematisch erweist, sie beziehen sich ganz besonders auf die in Rede stehenden 98 Verse selber, aus deren Vertheilung auf 3 Seiten die Zeilenzahl 30 von Lachmann gefolgert ist. Diese 98 Verse war er genöthigt auf 90 Zeilen zu reduciren, indem er die Umstellungen, welche hier Andere für carm. 84 und 77 angenommen, benutzte, um wahrscheinlich zu machen, dass die umzustellenden Verse in der älteren Handschrift am Rande gestanden hätten. In carm. 84 steht die Umstellung eines Distichons über allem Zweifel fest: dass es am Rande gestanden, ist möglich, aber Lachmann selber hält sich nicht berechtigt, an einer anderen Stelle die Umstellung von zwei Versen durch eine Randglosse zu erklären, wie aus seiner Behandlung der zwei letzten Verse des carm. 30 Alphene immemor ac hervorgeht. War die Verstellung der beiden Verse in carm. 30 möglich, ohne dass sie am Rande standen, so wird man auch für die Verstellung der beiden Verse in carm. 84 dasselbe annehmen müssen; dass die Verse in 30 etwas länger sind als in 84, will wenig besagen. Noch viel misslicher aber ist dies Verfahren für carm. 77, denn hier steht es nicht einmal fest, dass, wie Scaliger angenommen, die am Schlusse von carm. 78 stehenden vier Verse zu dem 77. Gedichte hinzuzufügen sind. Bergk hat ihnen neulich eine ganz andere Stelle angewiesen, und wieder anderer Ansicht ist Heyse, der die handschriftliche Ordnung für die richtige hält eine Ansicht, der ich meinerseits völlig zustimme. Genug, die Zusammengehörigkeit des carm. 77 und der beiden Distichen, welche in unseren Handschriften das carm. 78 abschliessen, ist eine mindestens sehr unsichere Hypothese, und nur mittels dieser sehr unsicheren Hypothese und der weiter darauf gebauten Annahme, dass carm. 78

am Rande der Handschrift gestanden, ist die aus der ferneren Hypothese, dass die Verse von Nulla potest mulier bis nunc est mens deducta tua gerade drei Seiten der alten Handschrift ausgefüllt hätten, gefol gerte Theorie Lachmanns,,von den 30 Zeilen auf jeder Seite“ zu halten.

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Dazu kommt noch eine andere Inconvenienz. Ich meine nicht das Auffällige, welches bei der Lachmannschen Theorie der Seiteneintheilung darin liegt, dass der letzte Vers des letzten Gedichtes gerade mit der letzten (30.) Zeile der letzten Seite aufhört, und dass der erste Vers des ersten Gedichtes schon mit der ersten Zeile der ersten Seite beginnt, und dass diese erste Seite, ohne dass oben ein Raum gelassen, ohne dass hier eine Ueberschrift: Catulli carmina oder dergl., stände, bereits die volle Zahl von 30 Versen enthält ich meine eine Inconvenienz, auf welche bereits Bergk Mus. f. Phil. Bd. 15, S. 507–513 mit folgenden Worten aufmerksam gemacht hat: „Lachmann geht stillschweigend von der Voraussetzung aus, dass die Mutter„handschrift keine Ueberschriften kannte; diese Vermuthung scheint „mir aber weit mehr gegen als für sich zu haben. Allerdings wird „durch Lachmanns Annahme die Untersuchung vereinfacht: denn wenn „man die Ueberschriften mitzählt, so kommt ein neues Element in die ,,Combination hinein, und die Berechnung wird noch dadurch erschwert, „, dass wir nicht sicher wissen, ob nun auch zu jedem einzelnen Ge,, dichte ohne Ausnahme sich die Ueberschrift erhalten hatte, z. B. das ,,68. Gedicht besteht unzweifelhaft aus zwei verschiedenen Elegien, „die in unseren Handschriften zu einem Gedichte verbunden sind. „Fanden sich ferner Ueberschriften, so war wohl auch die Zeilenzahl „nicht überall die gleiche, denn schwerlich hat der Abschreiber die „Seite mit der Ueberschrift des folgenden Gedichtes geschlossen. Ueber ,, alle diese Punkte lässt sich gar nicht bestimmt urtheilen, weil die „Collationen der Handschriften bisher darüber gar keine oder doch nur ,,ungenügende Auskunft geben.“

Hiermit ist ein wichtiges Moment geltend gemacht. In zehn Handschriften, über deren Einrichtung ich genau unterrichtet bin, sind die meisten Gedichte von einander getrennt, nur die in der Rossbachschen Ausgabe mit bezeichneten (ausgenommen 54") und ausserdem noch folgende andere sind continuirlich an einander gerückt:

2. Passer deliciae meae puellae
3. Lugete o Veneres cupidinesque.

(53. Risi nescio quem modo e corona
54. Othonis caput oppido pusillum

(54. Irascere iterum meis iambis

55. Oramus si forte non molestum est

65. Etsi me assiduo confectum cura dolore

(66. Omnes qui magni dispexit lumina mundi

Alle übrigen Gedichte*) sind in diesen Handschriften von einander getrennt, und bei dieser durchgängigen Uebereinstimmung darf vorausgesetzt werden, dass auch in der Handschrift, woraus sie geflossen sind, an diesen Stellen ein die Gedichte abtrennendes Spatium von Einer Zeile offen gelassen war. Ich sage Eine Zeile, weil bei der vorausgesetzten Gleichheit der Zeilen auf jeder Seite nothwendig angenommen werden muss, dass die Seiten liniirt waren, oder dass wenigstens die Anfänge einer jeden Zeile, wie wir dies ebenfalls in Handschriften häufig finden, durch eine bestimmte Anzahl von Punkten bezeichnet waren, welche der Librarius vermittelst Durchstechung mit einem scharfen Instrumente hervorgebracht hatte. Was die Ueberschriften betrifft, so kommen diese in den werthvolleren und nicht interpolirten Handschriften gar nicht vor: die älteste, der Germanensis, hat von dem ersten Gedichte die Ueberschrift: Catulli Veronensis liber incipit ad Cornelium, sonst entbehrt sie jeder Ueberschrift mit Ausnahme von 68: „Ad mallium", aber der Colbertinus, Paris. 1, Paris. 2, Memmianus u. a. entbehren auch vor 68 der Ueberschrift, wogegen sich in einigen von ihnen vor carm. 63 die Ueberschrift „Argonautica“ oder Aehnliches findet. Je stärker aber eine Handschrift interpolirt ist, um so zahlreicher die Ueberschriften, am zahlreichsten in dem schlechten, oben nicht mitgezählten Guelferbytanus. Wir dürfen also annehmen, dass die alte Handschrift, welche die beiden Gedichthälften Nulla potest mulier und nunc est mens deducta, an deren Trennung sich die ganze Frage nach der Verszahl anknüpft, noch als Ein Gedicht darbot, zwar keine Ueberschriften hatte, wohl aber, was auf das nämliche hinauskommt, die einzelnen Gedichte, mit

*) Von dem, was hier die eine oder die andere Handschrift Besonderes darbietet, können wir absehen.

Ausnahme der oben bemerklich gemachten, durch ein Spatium von einer Zeile von einander trennte. Nur wenn es sich traf, dass der Schlussvers eines Gedichtes mit der letzten Linie einer Seite zusammenfiel, konnte kein derartiger Zwischenraum gelassen werden, der leere untere Rand der Seite vertrat ihn.

Bergk a. a. O. hat nun ausser der Lachmannschen Theorie der Verszahlen und Seiten noch zwei andere Möglichkeiten hingestellt. Die eine schliesst sich an Lachmanns Princip an, dass jene 98 Verse auf drei Seiten gestanden hätten. Wir haben dieselbe bereits oben neben der Lachmannschen angedeutet. s. S. 15.

Bergk denkt sich, dass der Abschreiber, nachdem er pag. 67 copirt, nicht zwei, sondern nur Eine Seite, nämlich pag. 68 überschlug und statt deren gleich pag. 69 und darauf pag. 70 copirte, dass er dann erst die übersehene pag. 68 nachgeholt hätte. Dies ist freilich ebenso gut möglich, als das, was Lachmann angenommen, doch wird im Wesentlichen nichts damit geändert.

Die zweite Annahme Bergks nimmt Rücksicht auf die Ueberschriften, oder was dasselbe ist, auf die in der Urhandschrift zwischen den Gedichten befindlichen Spatien. „Rechnen wir dies sind seine Worte in dem uns vorliegenden Falle die Ueberschriften mit, so steigt die Zeilenzahl von 98 auf 110, und diese Zeilenzahl konnte sich auf vier Seiten von je 27 bis 28 Zeilen vertheilen, so dass der Abschreiber immer je zwei Blätter mit einander vertauschte. Dann würde sich folgende Anordnung der Gedichte ergeben:

...74. 80-87. 75-79. 88...“

Ich freue mich, von dem verehrten Kritiker eine Ansicht ausgesprochen zu sehen, die in ihrem Resultate wesentlich mit der meinigen übereinstimmt. Die Zeilenzahl einer jeden Seite des alten Codex betrug genau siebenundzwanzig. Wo zwei Gedichte an einander grenzten, war eine Linie leer gelassen, ausgenommen, wenn, wie oben bemerkt, der letzte Vers eines Gedichtes mit der letzten Zeile einer Seite übereintraf. Unter dieser Voraussetzung fing ein Blatt der alten Catullhandschrift (wir wollen es Fol. a nennen) mit Carm. 68, 164 Huc addent divi quam plurima quae Themis olim an, das folgende Blatt, Fol. b, begann mit Carm. 80, 1 Quid dicam Gelli und endete auf der Rückseite mit den vier Versen Carm. 87 Nulla potest mulier tantum se dicere amatam u. s. w. Das dritte Blatt, Fol. c, begann mit den vier Schluss

versen dieses Gedichtes: Nunc est mens deducta tua mea Lesbia culpa u. s. w., und endete auf der Rückseite mit den Versen: Lesbius est pulcher u. s. w. Der Abschreiber, auf dessen Copie die uns vorliegenden Handschriften zurück gehen, beging den Fehler, fol. c vor fol. b abzuschreiben. Wir können dabei annehmen, dass diese beiden Blätter aus dem Einbande losgegangen waren und ihre Reihenfolge mit einander vertauscht hatten. Auf S. 25 sind die vier Blätter in der angegebenen Weise abgedruckt: eine jede Seite enthält einschliesslich der zwischen je zwei Gedichten leer gelassenen Zeile genau 27 Zeilen. Denkt man sich fol. c vor fol. b, so hat man die in den uns vorliegenden Handschriften eingehaltene verkehrte Reihenfolge der Gedichte. So erklärt sich Alles viel einfacher als bei Lachmanns nur durch die sehr unwahrscheinliche Hypothese von Randglossen zu stützende und zugleich viel complicirtere Annahme, dass der Librarius, nachdem er eine Vorderseite abgeschrieben, die folgende Rück- und Vorderseite überschlagen und statt deren zunächst die auf die letztere folgende Rückseite abgeschrieben, dass er dann seinen Irrthum eingesehen und die zwei überschlagenen Seiten nachgeholt habe.

Ich habe, wie gesagt, die in Rede stehenden Blätter nach der alten Ordnung des Codex abdrucken lassen Seite 25-32. Sowie der Leser Fol. c vor Fol. b legt, hat er die Reihenfolge der Gedichte, wie sie jetzt in unseren Handschriften ist er hat denselben Fehler mit dem Librarius des Codex begangen, aus welchem unsere Handschriften geflossen sind. Sehen wir schliesslich, worin der Unterschied dieser Reihenfolge besteht.

Auf carm. 74 Gellius audierat patruum obiurgare solere folgte ursprünglich carm. 80 Quid dicam, Gelli, quare rosea ista labella. Beide Gedichte gehören auch sachlich unmittelbar zusammen, behandeln dasselbe Thema, den patruus irrumatus nicht den Rivalen Catulls, sondern dessen gleichnamigen Oheim, wie wir darthun werden. Die Gedichte an die Rivalen fangen mit carm. 77 an, es sind ihrer sieben, welche unmittelbar neben einander stehen: 77 wider Rufus, 78 wider Gallus, 79 wider Lesbius und daruf folgend die vier Gedichte wider den jüngeren Gellius; ihnen unmittelbar voraus geht das Entsagungsgedicht 76: Si qua recordanti. Ist dies zufällig? Gewiss nicht. Es hat sich oben herausgestellt, dass von den drei Theilen, in welche die sämmtlichen Gedichte Catulls zerfallen (kleinere Gedichte in melischen

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