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Die

Entwicklung des Naturgefühls

bei den

Römern.

Von

Alfred Biese,

Dr. phil.

Kiel.

Lipsius & Tischer.
1884.

Vorwort.

Die freundliche Aufnahme, welche der erste Teil dieser Schrift, 'die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen' Kiel, Lipsius & Tischer 1882, seitens der fachwissenschaftlichen Kritik und auch mancher belletristischen Zeitschrift erfahren hat, war mir ein Sporn, auf dem betretenen Wege weiter zu schreiten, der schliesslich zu einer Entwicklungsgeschichte des modernen Naturgefühls führen möchte. Die Phasen der dem Modernen zustrebenden Bewegung aufzuweisen, war auch hier neben einer objektiven Darstellung des römischen Naturgefühls selbst meine Hauptaufgabe; allem und jedem unsere heutige Empfindungsweise gegenüberzustellen, durfte ich dem Leser überlassen; ich beschränkte mich auch in den Schlussbetrachtungen auf das Wesentlichste, da ich sonst den späteren Untersuchungen hätte vorgreifen müssen. — Die Übersetzungen boten auch hier manche Schwierigkeiten, denn gerade bei solchen Arbeiten erkennt man so recht, wie es eigentlich eine Unmöglichkeit ist, wortund sinngetreu, ohne Änderung des Kolorits, in eine fremde Sprache zu übertragen; ich zog oft die wörtlichere Übersetzung der eleganten vor; die metrischen entlehnte ich den bekannten Werken von v. Knebel (Seydel), Heyse, Eberz, Hertzberg, Voss (Geibel), Wolff, Wölffel, Bothe u. a.; ich bemerke dies ausdrücklich, da manche Ausstellungen, die an den Übersetzungen des ersten Teils gemacht sind, mich selbst nur indirekt

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treffen und eigentlich an die Adresse von Droysen, Donner u. a. zu richten waren. Den lateinischen Text gab ich nicht immer in extenso, sondern oft beschränkte ich mich, besonders bei den bekanntesten, jedem Fachgenossen geläufigen Schriftstellern, auf die signifikantesten Stellen, um das mir so wie so unter den Händen anschwellende Buch nicht noch umfangreicher zu machen.

So möge denn auch diese Schrift mit dem Wunsche in die Welt hinausgehen, dass sie unter den Fachgenossen, soweit sie des Geschmackes an ästhetischen und kulturhistorischen Problemen des Altertums nicht entbehren und trotz der alles beherrschenden Kleinarbeit auch die allgemeinen Ziele nicht aus den Augen verlieren, sich Freunde erwerbe, die Gunst der liebenswürdigen Recensenten des ersten Teils sich erhalte und unter den Gebildeten weiterer Kreise, die noch Interesse für das klassische Altertum sowie für Poesie überhaupt besitzen, geneigte Beachtung finde*).

*) Wie langsam aber neu erkannte Wahrheiten durch alte Vorurteile hindurchsickern, zeigen Ausführungen neuesten Datums, die noch immer dem Altertum jede moderne Empfindung für die Natur, sowie eine Landschaftsmalerei und Landschaftsgärtnerei absprechen, wie z. B. Lessing, Welttheater Nationalztg. 17. Mai 1883; Biedermann beschränkt sich in seinem Aufsatze die Natur als Gegenstand poetischer Darstellung und Empfindung (Nord und Süd Juli 1883) auf eine Gegenüberstellung der Odyssee und des Werther (!), um den Unterschied antiken und modernen Naturgefühls darzulegen. Winter (Progr. Harburg 1883) 'Beiträge zur Geschichte des Naturgefühls' kennt nicht einmal die Arbeiten von Hess und Wörmann; Wert hat der Abriss über die Zeit von Opitz bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhundert's. Sittl, Gesch. d. griech. Lit. I, S. 3 citiert meine Schrift in einem Zusammenhange, der deutlich zeigt, dass er sie nicht gelesen hat.

Kiel, im December 1883.

Alfred Biese.

Erstes Kapitel.

Das mythologische Naturgefühl und die Poesie im ersten Zeitalter der Republik.

Die tiefere, verständnisvolle Erkenntnis alles Kunstschönen beruht wesentlich auf einem inneren Nachschaffen, auf einer Reproduktion; die Erkenntnis des Naturschönen bedingt eine nicht minder rege geistige Thätigkeit des Schauenden, denn die Natur wird nur schön durch das, was wir selbst von unserem Ich in sie hineintragen. Soll die schlichte Bewunderung zu einem tieferen Verständnisse, zu einem höheren Genusse führen, so ist dies nur möglich bei einer nicht geringen Bildung des Geistes und des Herzens. Der Mensch versteht völlig und aus dem Grunde nur das, was er in sich selbst erlebt. Die tote landschaftliche Natur erhält nur Leben durch Symbolisierung nach Form und Inhalt, d. h. durch Übertragung der eigenen Körperformen und der eigenen seelischen Regungen auf die Erscheinungswelt, durch anthropomorphische oder anthropopathische Deutung der Naturphänomene.

Wie einst mit flehendem Verlangen Pygmalion den
Stein umschloss,

Bis in des Marmors kalte Wangen Empfindung
glühend sich ergoss,

So schlang ich mich mit Liebesarmen Um die Natur mit Jugendlust,

Biese, die Entwicklung des Naturgefühls bei den Römern.

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