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Vorwort.

In seinem Aufsatze über die Söhne in der LaokoonGruppe<< (Deutsche Rundschau, Nov. 1881, S. 206) sagt H. Brunn: »Es zeigt sich hier, wie gerade bei viel erörterten Fragen wir uns häufig unbewusst unter dem Einflusse gewisser, durch besondere Verhältnisse bedingter Vorstellungen oder Zeitströmungen befinden, und wie eine allgemeine Verständigung vielfach an der Schwierigkeit scheitert, solche Probleme auf ihre ersten, einfachsten und ursprünglichsten Elemente zurückzuführen und sie losgelöst von bisherigen Vorstellungen voraussetzungslos zu erörtern. Beruht ja doch der Fortschritt der Wissenschaft nicht zum kleinsten Teile einfach auf dem Ablegen von Vorurteilen <<.

Diese trefflichen Worte finden ihre volle Bewahrheitung auch bei dem Problem, welches vorliegende Schrift sich zum Gegenstande gemacht hat. Sie will ein Vorurteil, welches das Empfindungsleben der Alten in seinem innersten Wesen trifft, aber durch einseitige Voraussetzungen und unrichtige Fragestellung hervorgerufen ist, nicht bloss im engeren Kreise der Philologen, sondern auch in dem weiteren aller Gebildeten beseitigen und zugleich einen Beitrag zur Geschichte der Poesie oder der poetischen Motive liefern.

VIII

Bei einer ebenso weit wie tief greifenden Frage war Beschränkung durchaus geboten; ich suchte daher — wenn auch mit steter Berücksichtigung der wichtigsten kulturhistorischen Momente vornehmlich an der Entwicklung der Poesie und Prosa die Entstehungsgeschichte des Naturgefühls bei den Griechen nachzuweisen. Den Fachgenossen und Kennern der antiken Sprachen glaubte ich den griechischen Text nicht ganz vorenthalten zu dürfen, da derselbe oft als Korrektiv der nur zu leicht moderne Gedanken hineintragenden Übersetzung dienen muss; detailliertere Belege des Erörterten verwies ich in die Anmerkungen.

Die Ungleichartigkeit in der Behandlung der einzelnen Epochen ergab sich von selbst durch die immer intensiver in dem griechischen Altertum hervortretende Bewegung nach dem Modernen hin, welche nachzuweisen mir besonders wichtig und interessant erschien.

Somit wendet sich dies Buch an alle, die noch Sinn für Poesie in unserer prosaischen Zeit sich bewahrt haben und bei dem minutiösen Detailstudium unserer Tage die Wichtigkeit der Lösung auch allgemeinerer Fragen nicht verkennen, sondern überzeugt sind, dass das einzelne nur Wert hat im Lichte des allgemeinen.

Kiel, den 25. April 1882.

Alfred Biese.

Einleitung.

Wenn wir in unserer wissensstolzen Zeit auf die Re

sultate modernen Denkens und modernen Schaffens hinblicken und bewundernd auf allen Gebieten menschlichen Tichtens und Trachtens neue Ideeen walten und noch immer grossartige Umwälzungen sich vollziehen oder vorbereiten sehen, so will es uns dünken, als ob eine ganze Welt uns trenne von der Vergangenheit früherer Jahrhunderte, als ob unsere gesamte Anschauungsweise eine total umgewandelte sei, der nichts früher auch nur im entferntesten gleich gekommen. Und andererseits wieder ergreift uns mitten in der Gährung, Zerrissenheit und Unruhe modernen Lebens und Strebens das Gefühl der Wehmut, als hätte die Vergangenheit doch ein Etwas besessen, das wir jetzt entbehren, als hätten wir Unwiederbringliches verloren; und diese Sehnsucht webt dann ihren Zauberschleier um eine Welt längst verklungener Tage, in denen das unbefriedigte Gemüt alles das verwirklicht zu finden wähnt, was es in der Gegenwart so schmerzlich vermisst. Diese beiden Empfindungen des Stolzes über die immensen Fortschritte modernen Denkens im Vergleich mit der Vergangenheit und des Schmerzes, dass eine selige, von der Harmonie des äusseren und inneren Lebens getragene Zeit längst dahingeschwunden ist, hindern nur zu leicht eine objektive Würdigung des klassischen Altertums. Der Stempel einer so fernen Vergangenheit rückt alles in eine Biese, die Entwicklung des Naturgefühls.

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höhere, reinere Sphäre, und man vergisst so leicht, dass, so lange es Menschen gegeben, auch dieselben Leidenschaften gewaltet haben, die nun einmal das Erbteil mensch lichen Blutes sind, wie Liebe und Hass, Ehrgeiz und Habsucht, und dass vergangene Geschlechter ebenso in Lust und Schmerz gejubelt und geklagt, ebenso genossen und gelitten haben wie wir, dass sich die Intensität des Empfindens nur abstuft nach dem Grade der Bildung und nach der nationalen Charakteranlage eines Volkes. Immer und überall begegnen wir denselben treibenden Kräften, welche die Kultur teils auf eine immer höhere Stufe heben, teils auch wieder langsam untergraben. So darf auch kein Sehnsuchtswahn das hellenische Altertum, wenn es auch in seiner klassischen Periode das Blütenzeitalter der Menschheit war, mit seiner Jahrhunderte ausfüllenden Kulturentwicklung in eine so ganz exceptionelle Höhe hinaufrücken; denn gerade das Schönste, das Herrlichste auf Erden ist nur flüchtig, ist nur von kürzester Dauer; auch die heitere, griechische Welt barg wie eine prangende Frucht in sich den Wurm der Vernichtung, der inneren Auflösung, der langsam das antike Wesen zernagte kraft der sich steigernden Bildung; der sophistischen Reflexion und des hellenistischen Kosmopolitentums. Trotzdem steht es geradezu wie ein Dogma fest, dass das naive Hellenentum von moderner Sentimentalität niemals angekränkelt-sei, dass also auch unser modernes, wesentlich sentimentales Interesse an der Schönheit der Natur den Alten gänzlich fremd gewesen, dass unser heutiges Naturgefühl ein wesentliches Kennzeichen unseres eigensten Geisteslebens, eine Errungenschaft der letzten Hälfte des XVIII. Jahrh. sei, von der das Altertum ebenso wenig wie das Mittelalter oder die Renaissance etwas ahnte. Es ist aber eine häufige Erfahrungsthatsache in der Wissenschaft, dass zunächst bestechende, ja in ihrer systemartigen Allgemeinheit blendende Urteile, trotzdem sie, wie leicht erkennbar, aus nur unvollständigen Prämissen geschlossen sind, durch die Autorität eines grossen Namens gestützt und geheiligt, immer wieder nachgesprochen werden und fast unausrottbar erscheinen. Gewöhnlich trifft ein gerechter Vor

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