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mir durch ein ungerechtes Schicksal entrissen bist, nie werde ich dich wiedersehen, nie wieder mit dir reden u. s. w., aber immer werde ich dich lieben und dir Trauerlieder singen. Jetzt aber nimm einstweilen (bis ich dazu kommen werde, jene Trauerlieder zu verfassen) dies Todtenopfer hin, welches ich nach alter Väter Sitte dir darbringe."

Reisst man carm. 101 aus dem Zusammenhange der übrigen Catullischen Gedichte und der Chronologie heraus, so wird man gegen die hier angerathene Erweiterung desselben um drei Disticha Nichts einzuwenden haben. Aber wir haben schon öfter bei Catull gesehen, wie ein Gedicht ohne Beachtung der damit im Zusammenhange stehenden unmöglich richtig verstanden werden kann und wie alle um einen solchen Zusammenhang unbekümmerten Conjecturalversuche fruchtlos sind. Und so ist es auch im gegenwärtigen Falle. Die drei fraglichen Disticha, die wir gegenwärtig in carm. 65 lesen: „Alloquar.... gemens Itylei“ sind, was auch Gruppe in seinem Minos dagegen einwenden mag, Catullische Verse, die er zu irgend einer Zeit, in irgend einem seiner vier Klaggedichte auf den Tod seines Bruders gemacht haben muss. Aber zu welcher Zeit hat er sie geschrieben? In welchem Gedichte stehen sie an ihrer richtigen Stelle? Folgen wir zunächst, wie es immer der Fall sein muss, auch hier der handschriftlichen Ueberlieferung. Ihr zu Folge gehören sie dem spätestens im Jahre 60 geschriebenen Gedichte an Hortensius an, einem Gedichte, welches sicherlich das früheste ist, in welchem er vom Tode des Bruders redet. In jenem Gedichte an Hortensius sagt er in einer episodischen dem Bruder gewidmeten Allocution: certe semper amabo, semper maesta tua carmina morte canam. Wer möchte bei diesem Versprechen der Trauergedichte das Wort semper in der Weise urgiren, dass Catull hiermit gesagt hätte, niemals in seinem Dichten von Trauerliedern ein Ende zu machen? Verstehen wir dies zweite semper als Das, was es wirklich ist, nämlich als eine durch das semper des vorangehenden Satzes (at certe semper amabo) hervorgerufene poetische Ueberschwenglichkeit, so müssen wir sagen, dass Catull dem hier gegebenen Versprechen, Trauerlieder auf den Tod seines Bruders singen zu wollen (maesta tua carmina morte canam) in der That nachgekommen ist. Denn ausser diesem ersten an Hortensius gerichteten Gedichte (vom Jahre 60) singt er vom Tode des Bruders in dem aus demselben Jahre stammenden Gedichte an Manlius (68), ferner in dem nicht über das Jahr 59 herabzurückenden Gedichte 68 und end

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lich in dem zu Troas im Jahre 56 geschriebenen carm. 101. Was also das Gedicht 65 seiner handschriftlichen Ueberlieferung gemäss verspricht, hat Catull wirklich gehalten.

Nun wollen wir annehmen, dass die drei Distichen: Alloquar... gemens Itylei nicht in carm. 65, sondern in 101 ihre Stelle hätten. Da würde also Catull dem Bruder im Jahre 56, im fünften Jahre nach dessen Tode Trauergedichte verheissen. Es ist nicht die leiseste Spur, dass er nach dieser Zeit auch nur ein einziges Trauergedicht geschrieben hat. Aber vor dieser Zeit, im Jahre 60 und 59, hat er ,,maesta tua carmina morte" geschrieben. Wie kann da nun Catull, nachdem er seinen Bruder hinlänglich beklagt, bei seiner Ankunft am Grabe desselben in Troas die Worte sagen: „ich verspreche dir, deinen Tod in Trauerliedern zu beklagen, einstweilen aber, bis ich dazu komme, dir Trauerlieder zu spenden, will ich dir jetzt ein Todtenopfer bringen"?

Ich denke also, wir müssen jene drei Disticha dem ersten der vier vom Tode des Bruders handelnden Gedichte lassen, wo sie der handschriftlichen Ueberlieferung nach stehen und wo ein solches Versprechen völlig an seiner Stelle ist. Sie sollen hier zwar, so sagt man, den Zusammenhang stören. Und sie störten ihn auch, so lange man den in den Handschriften nur unvollständig überlieferten Vers:

alloquar, audiero nunquam tua loquentem

durch die verfehlte Einschiebung von facta oder fata ausfüllen zu können vermeinte. Doch wird wohl „,nunquam te suave loquentem" die richtige Lesart sein (vergl. S. 66), bei deren Aufnahme jede Zusammenhangslosigkeit aufhört. Das Gedicht behält zwar immerhin eine episodische Allocution an den Bruder, aber warum sie entfernen? Muss nicht der ungeheuchelte wahre Schmerz zumal eines so ungeschminkten Dichters, wie Catull, der auch in seinen Versen immer nur dasjenige sagt, was er wirklich fühlt und denkt, eine solche die strenge Periodisirung unterbrechende Allocution an den Gegenstand des Schmerzes überaus natürlich erscheinen lassen?

Und wie endlich will man bei der Annahme jener Umstellung die Thatsache erklären, dass irgend ein Abschreiber seinem Originale zuwider drei Disticha in das 65. Gedicht stellte, welche das Original in dem viele Seiten später folgenden 101. Gedichte darbot, und dass sie der Abschreiber, wiederum seinem Originale zuwider, in diesem 101. Ge

dichte wegliess? Es findet zwar bei Catull noch eine andere weite Versprengung zusammengehörender Verse statt (carm. 87 und 75), aber gerade sie muss nothwendig zur äussersten Bedachtsamkeit treiben, denn hier liegt, wie Lachmann gezeigt hat, in der Verlegung der Blätter der alten Handschriften ein erklärbarer Grund der Umstellung vor, während dies bei der Umstellung jener drei Disticha des 65. in das 101. Gedicht nimmermehr, der Fall ist.

Folgen wir dem Codex Datanus, indem wir „Nec tamen interea" statt des vulgären „nunc tamen interea" schreiben, so macht interea keine Schwierigkeit und wir brauchen vor diesem Verse keinerlei Lücke zu statuiren. Ich habe bereits S. 167 und 168 angegeben, in welcher Weise das interea auf die Zeit zu beziehen ist, welche zwischen dem Tode des Bruders und dem jetzigen Augenblicke, wo Catull vier Jahre später die dem Todten gebührende Consecration darbringt, zu verstehen ist. Es wird vielleicht nicht unangemessen sein, wenn ich an dieser Stelle die Lesarten der sämmtlichen mir bekannten 11 Handschriften vorführe, es wird sich daraus der Werth der Datanischen Lesart und die Berechtigung der von mir gegebenen Constituirung des Textes am besten beurtheilen lassen.

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Rossbach scheidet nicht bloss aus der Mitte des an Hortensius gerichteten Gedichtes drei Distichen aus, sondern ist auch der Ansicht, dass die letzten drei Disticha, die man bis dahin allgemein als den Schluss dieses Gedichtes ansah, nicht dazu gehören, sondern das Fragment eines anderen darauf folgenden Gedichtes seien.

15

Sed tamen in tantis maeroribus, Ortale, mitto
haec expressa tibi carmina Battiadae,

ne tua dicta vagis nequicquam credita ventis
effluxisse meo forte putes animo.

[Ut missum sponsi furtivo munere malum
20 procurrit casto virginis e gremio,
quod miserae oblitae molli sub veste locatum,
dum adventu matris prosilit, excutitur:
atque illud prono praeceps agitur decursu,
huic manat tristi conscius ore rubor.]

دو

So sehr ich mich gegen eine Verkürzung in der Mitte von 65 ausgesprochen habe, so kann ich doch nicht umhin, mit der Abscheidung der drei letzten Disticha, trotzdem dass sie bei Andern keine Zustimmung gewonnen hat, mich durchaus einverstanden zu erklären. Catull sagt dem Hortensius: „mitto haec expressa tibi carmina Battiadae", „ich übersende dir diese Uebersetzungen Callimacheischer Gedichte". In der That folgt auf den Vers Huic manat tristi conscius ore rubor in unserer Sammlung Catullischer Gedichte eine Uebersetzung von Callimachus' Gedichte: die Locke der Berenice", und man ist niemals darüber uneins gewesen, dass dieselbe eines, der im Gedichte 65 dem Hortensius versprochenen und ihm zugleich mit diesem Gedichte 65 übersandten „expressa carmina Battiadae" sei. Aber wo sind die anderen oder wo ist das andere dieser carmina? Rossbach meint, dass auch dieses andere einst vollständig in unserer Gedichtsammlung enthalten gewesen sei und unmittelbar zwischen dem Sendschreiben an Hortensius (65) und der coma Berenices (66) seinen Platz gehabt habe, dass aber der grösste Theil desselben aus irgend einer alten Handschrift, aus welcher die uns erhaltenen Codices stammen, ausgefallen sei; bloss in den drei Disticha: ut missum sponsi .... conscius ore rubor, sei uns ein geringer Rest desselben erhalten.

In unseren Handschriften schliessen sich diese drei Disticha zwar ohne Absatz unmittelbar an das Gedicht an Hortensius an, aber dies kann für unsere Auffassung um deswillen nicht maassgebend sein, weil ganz in derselben Weise auch noch die coma Berenices, die doch sicherlich ein von dem Vorausgehenden selbstständiges Gedicht ist, in den Handschriften ebenfalls ohne Absatz mit dem Vorausgehenden zusammenhängt. Wir können uns daher nur an die betreffenden drei Disticha selber halten. Hierbei fragen wir zunächst: „Ist es noth

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wendig, dass sie als Schluss der Epistel an Hortensius angesehen werden?" Hierauf kann die Antwort nur diese sein:,,Gewiss nicht". Im Anfange sagt Catull:

Zwar hat die Sorge mich durch stete Pein verzehrt,
hat mir der Musen Gunst, o Hortalus, verwehrt,
und meines Geistes Kraft für eigenen zarten Sang,
sie ist dahin bei solcher Unheilswogen Drang.

Und nachdem dann Catull in einer wahrhaft ergreifenden Weise dem Hortalus geschildert, was für ein Unglück es sei, das über ihn hereingebrochen, schliesst er mit folgenden Worten:

Und dennoch, Hortalus, bei solchem Jammer bringe
ich dir Callimachus' Gesänge, übertragen

in unsere Sprache, denn du sollst nicht sagen,
dass deine Mahnung nicht zu meinem Herzen dringe,
dass sie ein flücht'ger Windeshauch davon getragen.

,,Denke nicht, dass deine wiederholten Aufforderungen an mich, Gedichte zu schreiben (oder mich mit Callimachus zu beschäftigen?) in den Wind gesprochen seien, denn obwohl ich jetzt in dem Unglück, das mich betroffen hat, zu poetischen Productionen unfähig bin, so sende ich dir dennoch diese Uebersetzungen des Callimachus." Dies ist der Inhalt von Catulls Antwort auf einen an ihn nach Verona gesandten Brief des Hortensius, in welchem dieser fragte, ob er nicht denken müsse, dass Catull seine Mahnungen gänzlich vergessen habe?

Wir fragen weiter, ob es wenigstens möglich ist, dass die drei fraglichen Disticha zur Epistel an Hortensius gehören? Darauf kann ich nur antworten: ja es ist möglich, im Falle Catull ein geschmackloser Dichter und beim Aussprechen seiner Gefühle so wenig wahrhaftig war, dass er anscheinend vom tiefsten Schmerze ergriffen, fast unmittelbar auf eine uns wahrhaft rührende Allocution an den Verstorbenen mit einer durchaus unpassenden Tändelei abschliesst. Uebersetzen wir die drei Disticha im Anschlusse an den letzten Vers des carm. 65:

,,Ich sende dir diese Uebersetzungen des Callimachus, auf dass du nicht glaubest, deine Mahnungen seien, vergeblich in den Wind gesprochen, aus meinem Geiste eilig entschwunden, wie der vom

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