Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Chronologisches Verhältniss von 65 u. 68a zu d. Lesbia - Liedern. 245

erfolgenden Wiederversöhnung Wesens genug. Wir würden also allen Grund haben, die Gedichte 65 und 68" unmittelbar hinter carm. 8: miser Catulle desinas ineptire zu setzen. Nachdem er diesen Fehdebrief geschrieben, wäre er nach Verona gereist, hätte dort die Nachricht vom Tode seines Bruders erfahren, die ihn länger, als er anfänglich beabsichtigt, dort zurückgehalten, und dann endlich nach seiner Rückkehr hätte er die Gedichte 83, 92, 104, 107, 109, 36 (,, Wie sich Liebende hassen" und "Versöhnungsfreude") geschrieben und daran hätte sich carm. 68" angereiht.

Aeussere Gründe gegen diese Auffassung lassen sich nicht geltend machen. Wohl aber innere psychologische. Wer mit uns einverstanden ist, dass dem Gedicht 8 keineswegs eine wirkliche Charakterstärke Catulls zu Grunde liegt, sondern dass Catull darin sich nur allzugut bewusst ist, er würde der Freundin je eher, je lieber mit ganzer Seele sich wieder hingeben, wer uns beistimmt, dass den Fragen, die am Schlusse dieses Gedichtes von v. 16 an ausgesprochen sind, keinesfalls eine Untreue der Geliebten, sondern irgend eine andere durch carm. 36 wohl motivirte Thatsache (vergl. S. 60) zu Grunde liegt (und zu dieser Ansicht werden sich nach dem, was wir zu jenem Gedichte S. 54 bemerkt haben, wohl Alle bekennen), der wird sich kaum zu der Meinung bestimmen lassen, es habe der angenommene Trotz jenes von der höchsten Anhänglichkeit dictirten Gedichtes 8 einen Mann, wie Catull vermocht, den Schauplatz seiner Liebe zu Lesbia zu verlassen und sich nach Verona zu entfernen, um erst nach langer Trennung zu Clodia zurückzukehren. Wer carm. 8 geschrieben, der kann die Geliebte, der er zugerufen: quis nunc te adibit u. s. w., nicht auf einen Tag allein lassen, er verfolgt sie auf Wegen und Stegen und ist schon am anderen Tage wieder bei ihrem Gatten, um dort wenigstens ihren Anblick zu haben, wenn er sich auch noch so unfreundlich von ihr behandeln lassen muss.

Wir können uns diesen psychologischen Schwierigkeiten, ja sagen wir Unmöglichkeiten, nicht entziehen, wir sind der Ansicht, dass die Reise nach Verona erst nach dem Zwiste und nach der Wiederversöhnung erfolgt sei, und setzen dieselbe erst nach Abfassung des Gedichtes 36: Annales Volusi, cacata charta; was dort in Verona den Gedanken an Clodia für den Augenblick zurücktreten liess, das war die Nachricht vom Tode des Bruders, die er dort empfing: „,totum hoc studium luctu fraterna mihi mors abstulit" (68a, 19). Da die

1

Entzweiungs- und Versöhnungsgedichte gewiss in rascher Folge hinter einander geschrieben sind, so werden sie alle in dem ersten Jahre des innigen Verhältnisses zwischen Catull und Clodia (und dies ist das Jahr 61) einen angemessenen Raum finden. In das Jahr 60 fällt alsdann der längere Aufenthalt in Verona. In dieser Zeit bewahrt Clodia dem Abwesenden ihre Treue nicht, sie ist unvorsichtig genug, durch ihren Wandel solchen Anstoss zu geben, dass Cicero über sie öffentlich reden darf (ad Attic. 2, 1). Und als Catull wiederkommt und in Rom das Gedicht 68 schreibt, da hat er allen Grund, seiner Eifersucht gegen einen noch ausser ihm selber von Clodia erhörten Anbeter Raum zu geben.

Wir haben im vierten Capitel des ersten Abschnittes drei sich auf Verannius und Fabullus beziehende Gedichte Catulls besprochen. Es vereinigt sich, wie sich S. 150-155 gezeigt hat, Alles dahin, dass diese Gedichte im Jahre 60 geschrieben sind und dass die Reise nach Spanien, welche die beiden Freunde unternommen haben, mit der Proprätur Caesars in Spanien zusammenfiel. Erst im Juni des Jahres 60 war Caesar aus seiner Provinz zurückgekehrt und bald nach dieser Zeit müssen die drei Gedichte geschrieben sein: - zeigt sich doch ausdrücklich im neunten Gedichte, dass Verannius kurz vor dessen Abfassung wieder angelangt sein muss. In dieser Zeit muss also auch Catull Verona bereits verlassen und sich nach Rom begeben haben. Was im Gedichte 13 Catull von Lesbia als seiner vertrauten Geliebten berichtet, weist darauf hin, dass in der Mitte des Jahres 60 die alte Vertraulichkeit zwischen Catull und Clodia sich wieder eingestellt hatte. Alle drei Gedichte sind demnach entweder kurz vor oder nach dem Gedichte 68 geschrieben.

b

Auch noch ein anderes Gedicht haben wir in diesen Zeitraum zwischen Metellus' Rückkehr und dessen Tode einzureihen, nämlich das Gedicht, welches den Tod von Lesbia's anmuthigem Sperling berichtet, jener deliciae meae puellae, die gleichsam die erste Vermittelung eines Einverständnisses zwischen Catull und Clodia gewesen waren (carm. 2a).

3. Lugete, o Veneres Cupidinesque,
et quantum est hominum venustiorum.
Passer mortuus est meae puellae,
passer, deliciae meae puellae,

10

5 quem plus illa oculis suis amabat:
nam mellitus erat suamque norat
ipsam tam bene, quam puella matrem
nec sese a gremio illius movebat,
sed circumsiliens modo huc modo illuc
ad solam dominam usque pipilabat.
Qui nunc it per iter tenebricosum
illuc, unde negant redire quenquam.
At vobis male sit, malae tenebrae
orci, quae omnia bella devoratis:
15 tam bellum mihi passerem abstulistis.
O factum male! io miselle passer,
tua nunc opera meae puellae
flendo turgiduli rubent ocelli.

Ach jede Liebesgöttin, jeder Liebesgott
und all ihr zarten Seelen, klaget, klagt,
das Vöglein meiner Lesbia ist todt,

das Vöglein, das so viele Freude ihr gemacht, das mehr sie liebte als ihr Augenpaar.

O wie es süss und lieblich war!

Sie war ihm wie dem Kind die Mutter wohlbekannt,

es sass auf ihrem Schoosse, und ihr zugewandt,

so liess es fröhlich hüpfend seinen Sang ertönen.
Jetzt wandert es den Weg ins Schattenland,
wo noch kein Einziger den Rückweg fand.
Ich fluche dir, des Orcus grauser Nacht,
du bringst Verderben allem Schönen
und hast auch ihm den Tod gebracht.

O Schreckensthat, mein Vöglein, ach ist todt,
und meine Lesbia weint sich die Augen roth.

In der von Catull veranstalteten Ausgabe seiner Gedichte ist carm. 3 zwar in nahen Zusammenhang mit carm. 2a gebracht, aber daraus folgt noch nicht, dass es unmittelbar gleich nach demselben geschrieben worden ist. Es kann ebenso gut auch in das Jahr 60 gehören hat doch der Ton desselben eine merkliche Verwandtschaft mit dem Gedichte 68; es athmet eine unverkennbare Resignation, ähnlich derjenigen, welche sich in dem Enkomion an Allius ausspricht, und möchte wohl der Zeit nach gerade diesem Gedichte nahe gerückt werden müssen.

Die Zeit vom Tode des Metellus (im Jahre 59) bis zur Abreise Catulls nach Bithynien (im Frühlinge des Jahres 57) ist, wie schon oben bemerkt, durch diejenigen Gedichte über Lesbia und seine Rivalen eingenommen, welche wir im dritten Capitel des ersten Abschnittes behandelt haben. Nur das früheste der Rivalenlieder (c. 78, an Gallus gerichtet) möchte wohl noch in die vorausgehende Periode gehören und etwa derselben Zeit wie carm. 68' entstammen. Darauf weist die Art und Weise hin, in welcher der Clodia Erwähnung geschieht, denn wie diese in carm. 68' als verecunda hera bezeichnet wird, so gönnt ihr Catull in carm. 78 den Ausdruck pura puella beide Epitheta sind gleich weit entfernt von den herabsetzenden Prädicaten, mit welchen die ungetreue Geliebte in den Gedichten 70 u. s. w. (S. 112 u. 113) und in den übrigen Rivalenliedern benannt wird. Von dem einen dieser Rivalen, von Caelius Rufus, wissen wir bestimmt, dass er gerade in der Zeit von Metellus' Tode bis zu Catulls Abreise nach Bithynien in Rom lebte, klagt er doch im Jahre 59 Cicero's ehemaligen Collegen im Consulate wegen seiner Theilnahme an der catilinarischen Verschwörung an. In dasselbe Jahr 59 fällt auch der Prozess gegen den Denuncianten Vettius und das sich hierauf beziehende 98. Gedicht Catulls (S. 156).

Wir müssen, ehe wir diesen Abschnitt beschliessen, noch einmal auf die vom Tode des Bruders handelnden Gedichte Catulls zurückkommen. Die beiden ersten, an Hortensius und Manlius gerichtet, sind aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 60 geschrieben, das dritte (carm. 68), welches wir in der Ueberschrift als Enkomion an Allius bezeichnet haben, muss jedenfalls noch vor dem in das Jahr 59 fallenden Tode des Metellus geschrieben sein, während das vierte (101) erst bei der Rückkehr Catulls aus Bithynien im Frühjahr oder Sommer 56 abgefasst ist, also etwa vier Jahre später, nachdem Catull und seine

Familie jene Trauerbotschaft aus Troas empfangen hatten. Wir haben oben S. 168 u. 169 den Text dieses Gedichtes nach dem Codex Datanus constituirt. Die bisherigen Ausgaben, die denselben unbeachtet liessen, schreiben das vorletzte Distichon des Gedichtes:

Nunc tamen interea prisco quae more parentum

tradita sunt tristis munera ad inferias.

Bei dieser Lesart hat das Wort interea keinen Sinn, denn in den vorausgehenden Distichen ist Nichts erwähnt, was sich auf die durch in-. terea bezeichnete Zeitperiode beziehen könnte. An dieser Schwierigkeit hat Rossbach in seiner Ausgabe Anstoss genommen. Er war zuerst der Ansicht, dass in dem ersten der vom Tode des Bruders handelnden Gedichte (carm. 65, an Hortensius Ortalus) die mit Alloquar beginnenden drei Distichen auszuscheiden und in das vierte Gedicht (carm. 101) vor den fraglichen Vers: nunc tamen interea einzureihen seien, in welches sie durch das Versehen eines Librarius hineingerathen wären. Indess kam er von dem Gedanken einer Herübernahme jener drei Disticha in das 101. Gedicht zurück, da er die. Möglichkeit einer Versprengung an einen so weit entlegenen Ort hin nicht einzusehen vermochte, er bezeichnete deshalb zwar in der Annotatio zum 65. Gedichte jene drei Disticha als eine Interpolation, aber suchte im 101. Gedichte der durch interea hervorgebrachten Schwierigkeit durch Verwandlung der handschriftlichen Lesart,,interea hoc" oder „interea haec" unter Verweisung auf c. 68, 97-100 in „in terra hac" zu entgehen. Gegen diese Aenderung ist mit Recht eingewandt worden, dass die Lesart interea bereits dem Verfasser des Gedichtes Ciris vorlag, der, wie er überhaupt den Catull nachahmt, so auch das vorliegende Distichon des 101. Gedichtes nachgebildet hat: Haec tamen interea. Dagegen hat Rossbachs Versuch, aus dem an Hortensius gerichteten 65. Gedichte die drei Disticha: Alloquar Itylei als nicht hierher gehörig auszuscheiden, Anhänger gefunden. Haase in miscellaneorum philologicorum lib. III (Breslauer Universitätsprogramm 1861) ist der Ansicht, jene drei Disticha wären zwar echt Catullischen Ursprungs, aber sie ständen mit den vorausgehenden und nachfolgenden Versen des Gedichtes 65 in keinem Zusammenhange, sie seien hinter das dritte Distichon des Gedichtes 101 zu verlegen, wo alsdann die sonst unerklärlichen Worte: nunc tamen interea sofort im besten Zusammenhange ständen. „O Bruder, der du

....

gemens

« ZurückWeiter »