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ERSTE ABTEILUNG
FÜR CLASSISCHE PHILOLOGIE

HERAUSGEGEBEN VON ALFRED FLECKEISEN.

29.

DIE HILFSVERBA ALS FLEXIONSENDUNGEN.

Bei der schnellen entwicklung der vergleichenden sprachforschung und bei dem zurückgehen auf immer ferner liegende zeiten und sprachstufen ist es sehr erklärlich, wenn eine und die andere hypothese sich bei genauerer prüfung als bedenklich oder ganz unhaltbar erweist. als eine solche erschien mir die annahme, dasz ein groszer teil der verbalformen durch composition flectierter hilfsverba mit unflectierten verbalstämmen entstanden sei. die gründe, welche gegen diese auffassung sprechen, habe ich zunächst in meiner 'entwicklung der lateinischen formenbildung' (Berlin 1870) dargelegt. es war nicht zu erwarten, dasz eine von dem begründer der vergleichenden sprachwissenschaft aufgestellte und von seinen anhängern in einer reihe von jahren allmählich über das ganze system der verbalflexion ausgedehnte annahme nun plötzlich aufgegeben werden würde; vielmehr war ich im günstigsten falle auf entschiedenen widerspruch gefaszt. dieser liesz denn auch nicht lange auf sich warten und veranlaszte mich in der schrift 'die ableitung der verbalendungen aus hilfsverben' (Berlin 1871) unter erwägung der erhobenen einwendungen nochmals die gegen jene ansicht sprechenden gründe genau auszuführen und dabei auch die compositionsgesetze der indogermanischen sprachen mit in betracht zu ziehen. auch diesen erörterungen gegenüber hat man die annahme Bopps aufrecht zu erhalten versucht. es kann mir nur erfreulich sein, meine ausführungen in dieser weise auch an hervorragender stelle beachtet und einer widerlegung wert gehalten zu sehen. auszerdem geben mir diese einwendungen veranlassung, eine nicht allein für die flexionslehre, sondern an letzter stelle für das ganze form- und sprachbildende princip des indogermanischen sprachstammes wichtige und daher auch den forscher der einzelnen sprachen mehr und mehr berührende frage wiederholt einer prüfung zu unterziehen.

Jahrbücher fur class. philol. 1874 hft. 3.

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Neuerdings hat nemlich GCurtius in seinem buche 'das verbum der griech. sprache seinem bau nach dargestellt, 1r band' (Leipzig 1873) meinen widerspruch gegen die annahme Bopps erwähnt und als unzutreffend bezeichnet. er gibt sich dabei den anschein, meine gegengründe mit wenigen worten in gleichsam belehrendem tone beseitigen zu können, wünscht (s. 30) dasz ich mich mit den bekämpften ansichten vor dem niederschreiben meiner worte doch nur etwas näher vertraut gemacht hätte, erwähnt den widerspruch in sich selbst, den ich erkannt zu haben 'mir einbilde', findet aber dasz ich in meiner zweiten schrift 'schon auf dem wege sei zu begreifen', in welche periode des sprachlebens man sich versetzen müsse. für das in diesen worten liegende wolwollende bedauern meiner geringen fassungskraft bin ich zwar sehr dankbar, kann mich aber der vermutung nicht entschlagen dasz, wenn ein gelehrter, der einen rücksichtsvollen ton in der polemik ganz ausdrücklich verlangt, so starke ausdrücke gebraucht, ihm meine einwendungen doch vielleicht unbequemer sind als er selbst zugeben mag. freilich scheinen mir nicht alle seine entgegnungen völlig ernsthaft zu nehmen zu sein. so sagt derselbe (s. 31): 'das leugnen zusammengesetzter verbalformen ist namentlich deswegen etwas sehr misliches, weil es zu andern erklärungen der hier in betracht kommenden formen nötigt [!], mit denen sich eine wissenschaftliche sprachforschung am allerwenigsten wird befreunden können.' der ausdruck 'nötigt' scheint mir das ganze sachverhältnis schief darzustellen; oder will Curtius wirklich ernstlich behaupten, dasz erklärt werden musz, dasz man eine auffassung nicht eher antasten darf als bis man eine bessere an deren stelle setzen kann? verhält es sich denn mit einer wissenschaftlichen erklärung wirklich nicht anders als mit einem rock, den man nicht eher ablegen kann als bis man einen neuen hat, weil man überhaupt einen solchen zu tragen 'genötigt ist'? ich bin noch immer der meinung, die ich (verbalend. s. 41) ausgesprochen habe, dasz meine einwendungen gegen Bopp von meinen positiven vermutungen völlig unabhängig sind, so dasz diese letzteren gänzlich zerstört werden könnten, ohne dasz jene davon überhaupt nur berührt würden. daher scheint es mir auch ein völlig zweckloses bemühen, wenn man, wie bisher wiederholt geschehen ist, die hypothese Bopps nicht dadurch zu stützen sucht, dasz man meinen einspruch widerlegt, sondern sich vorwiegend damit abgibt, meine eigenen vermutungen abzuweisen und zu perhorrescieren.

Ferner findet Curtius (s. 30), dasz ich (verbalend. s. 33) schon auf dem wege sei zu begreifen, dasz man, um das wesen zusammengesetzter stämme zu verstehen, sich in die periode des sprachlebens versetzen müsse, in der die wörter 'die gestalt nackter stämme hatten'. nun habe ich aber schon 'formenbildung' s. 198 sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dasz nach meiner meinung die vorliegende frage überhaupt nur auf die voraussetzung gegründet werden kann, dasz die späteren stämme nicht mit Pott als 'ideale abstractio

nen', sondern als früher selbständig existierende wörter aufgefaszt werden. ich schlosz aber gleich daran die bemerkung, man komme auch dann auf eine unmöglichkeit hinaus: denn da ein nackter stamm und eine flectierte verbalform componiert sein sollen, so müste man annehmen, das verbum hätte gleichzeitig flectiert und unflectiert in der sprache bestanden, dies aber sei ein widerspruch in sich selbst. hierzu bemerkt Curtius (s. 29): es wäre schlimm um die sprachwissenschaft bestellt, wenn sie ein halbes jahrhundert hindurch dinge behauptet hätte, die sich in diesen paar sätzen so glatt widerlegen lieszen. hätte Merguet, ehe er diese worte schrieb, sich doch nur etwas näher mit den ansichten vertraut gemacht, die er bekämpft!' und dann nach zerlegung von a-dik-sam und unter hinweis darauf, dasz auch ich den vocativ als flexionslose stammform anerkennen müsse: 'ein anachronismus oder «widerspruch in sich selbst, den M. erkannt zu haben sich einbildet, liegt darin nicht im allermindesten.' früher war Curtius darüber anderer meinung, denn er schrieb mir am 26n december 1869: 'Sie haben . . eine schwierigkeit, die mich ebenfalls in letzter zeit mehrfach beschäftigt hatte, geschickt bloszgelegt, ich meine den chronologischen widerspruch, der darin liegt für die verhältnismäszig späte sprachperiode, in der die, wie ich fortwährend glaube, zusammengesetzten tempora und modi entstanden, nackte stämme mit flectierten formen von hülfsverben in verbindung treten zu lassen. wie sich diese schwierigkeit lösen läszt, darüber kann ich mich jetzt noch nicht aussprechen.' jetzt scheint Curtius eine solche schwierigkeit nicht mehr anzuerkennen: denn er verweist mich auf seine abhandlung 'zur chronologie der indogermanischen sprachforschung' (abh. d. philol. hist. classe der k. sächs. ges. d. wiss. bd. V, 1867). dort 'habe ich' sagt er (verbum I s. 30) 'den beweis zu führen gesucht, dasz die flexion der nomina etwas viel späteres ist als die hauptstadien der verbalflexion. ist dies richtig, so gab es zb. noch keine casusformen des nominalstammes dik, als schon längst ein präteritum äsam (ich war) existierte, es war damals also noch der nackte stamm vorhanden. und wie will man es als unmöglich hinstellen, dasz diese beiden formen mit einer geringen veränderung zu a-dik-sam zusammenrückten?" so ganz gering scheint mir diese veränderung, durch welche a-diksam statt des zu erwartenden dik-āsam entstanden sein soll, nun freilich nicht, obwol geschwindigkeit keine hexerei ist; die hauptsache liegt jedoch darin, dasz ein nominal stamm als erster compositionsteil statt des sonst vorausgesetzten verbalstammes bezeichnet wird, da hierdurch die ganze frage eine wesentlich andere gestalt gewinnt. ich werde daher erstlich zu untersuchen haben, ob Curtius wirklich bereits früher eine solche auffassung ausgesprochen und ich dieselbe nur zu berücksichtigen unterlassen habe; und zweitens, welche stütze etwa die hypothese Bopps durch die annahme der nominalstämme gewinnen würde.

Was den ersten punct betrifft, so findet sich in der abhandlung

*zur chronologie' (s. 237) der satz: 'dasz eine form wie a-dik-sa-t einen nominalstamm in sich enthält, ist . . an sich einleuchtend, denn ein satz mit einem verbum substantivum musz ein nomen enthalten.' auch ist (s. 207) gesagt: 'in allen sprachen unseres stammes zeigt sich nach ausbildung der verbalflexion eine abneigung gegen unmittelbare verbindung von verbalwurzeln mit flectierten verbalformen.' da nun die endungen -Oŋv -bam -cw -ro -vi -si usw. aus flectierten verbalformen entstanden sein und also doch nach ausbildung der verbalflexion mit einem stamme zusammengesetzt sein sollen, so wird man erwarten dasz Curtius auch nur zusammensetzungen derselben mit nominalstämmen zugibt. diese voraussetzung wird jedoch sogleich durch die folgenden worte als irrig erwiesen: es kann nicht zufall sein, dasz die zusammensetzung, bei nominalformen so ungemein häufig, bei verben.. im allgemeinen gemieden wird. ausnahmen finden nur statt bei einigen wenigen verbalstämmen, deren bedeutung zu hülfsverben erblaszt ist, wie bei den wurzeln as ja dha. die verwendung solcher wurzeln in der tempusbildung ist unverkennbar.' und weiter: 'es gehen jene hülfsverben nur losere verbindungen für einzelne tempusstämme ein.' welche qualität Curtius den stämmen beilegt, an die jene tempusbildenden wurzeln angetreten sein sollen, geht aus andern stellen jener abhandlung deutlich hervor. s. 208 stehen die worte: 'wir werden allerdings sehen, wie nominale themata auch verbal verwendet werden. allein das geschieht, wie sich zeigen wird, zu einem ganz bestimmten zweck bei der präsensbildung.' es sind darunter die mit a na nu usw. erweiterten präsensstämme im gegensatz zu der kürzern stammform verstanden (ao. s. 224 ff.). dagegen wird (s. 209 f.) wenigstens dem gröszern teil der wurzeldeterminativa ausdrücklich nicht nominaler, sondern verbaler ursprung beigelegt; also würden auch die mit ihnen gebildeten stämme verbalstämme sein. ferner wird die grosze classe der mit ja und a-ja gebildeten stämme ebenfalls dadurch als wirklich verbal bezeichnet (s. 237. 244), dasz jenes ja als ein verbum 'gehen' aufgefaszt ist, da hiernach diese sämtlich verbale composita mit dem begriff 'gehen' sein würden. folglich könnten auch diejenigen tempusformen dieser verba, welche ein hilfsverbum enthalten sollen, nur durch antritt desselben an einen verbalstamm entstanden sein. hieraus ergibt sich, wie ich glaube, hinlänglich, dasz Curtius zwar gelegentlich von nominalstämmen gesprochen, sogar deren notwendigkeit neben einem als copula fungierenden und den tempuscharakter bildenden angenommenen hilfsverbum betont, auch einem teil der erweiterten präsensstämme nominalen ursprung zugeschrieben hat, dasz jedoch die zurückführung sämtlicher vermeintlich componierter tempusformen auf einen solchen nominalstamm nicht erfolgt ist, so zb. das lat. imperfectum auf -bam vom präsens in bezug auf die qualität des stammes durchaus nicht unterschieden wird. dies ist der grund, weshalb ich bei abfassung meiner 'formenbildung' in den annahmen

von Curtius rücksichtlich der natur dieser stämme keine wesentliche abweichung von Bopp und dessen übrigen anhängern bemerken konnte, zu deren besonderer erörterung ich mich hätte veranlaszt fühlen sollen. auch jetzt noch führt übrigens Curtius nicht nur (verbum I s. 11) die sprachformen auf verbalwurzeln zurück, sondern er sagt (s. 16) ausdrücklich: während aber in opη-μí, deíк-vu-μev, λeíño-μev nur éin verbalstamm mit einem oder mehreren pronominalstämmen verbunden ist, liegen in è-λú-ca-μev, ẻ-λú-0ŋ-v mindestens zwei verbalstämme vor', stimmt also bis auf den unten noch zu besprechenden unterschied eines hilfsverbal stammes gegenüber der von Bopp angenommenen speciellen flexionsform mit diesem völlig überein. ja er geht in der annahme von verbalstämmen sogar weiter, als sonst geschehen ist: denn wir finden (ao. s. 28) den auffallenden satz: 'wie liesze sich auch in lateinischen formen wie potero, in gothischen wie soki-dédum (wir suchten) das vorhandensein zweier verbalstämme verkennen, von denen der zweite dem ersten gegenüber eine dienende stellung einnimt?' dies ist ebenso neu wie unrichtig. dasz ero in pot-ero nicht mit einem verbalstamm, sondern mit dem adjectiv potis, pote verbunden ist, habe ich noch nirgends bezweifelt gefunden, und diese bemerkung hat mich um so mehr überrascht, als ich gerade mit Curtius eine auseinandersetzung über die formen von possum gehabt habe, wobei meine als selbstverständlich hingestellte zurückführung von possum auf jenes adjectiv (formenbildung s. 192 ff.) von ihm keinerlei widerspruch erfahren hat ("bemerkungen über die tragweite der lautgesetze, insbesondere im griechischen und lateinischen', in den berichten der k. sächs. ges. d. wiss. 1870, s. 26 ff., vgl. meine 'verbalendungen' s. 26). oder soll der ausdruck 'formen wie pot-ero' vielleicht bedeuten, dasz potero gesagt, aber nicht gemeint ist, sondern etwa videro, cepero? diese sind nur leider nicht formen wie pot-ero, sondern anders beschaffen.

Ferner äuszert Curtius (verbum I s. 30) in bezug auf den widerspruch, den ich erkannt zu haben mir einbilde': 'was sollen wir denn zu compositis sagen wie πυρ-φόρο-c, πάν(τ)-coφo-c, λογοTOIÓ-C?' ich kann dazu nur sagen, dasz sie überhaupt nicht zur sache gehören. wenn Curtius fortfährt: 'da sind ja überall in der unverkennbarsten weise flexionslose stämme mit flectierten stämmen zu lebendigen ganzen verbunden', so erwidere ich darauf: erstlich sind hier wol nicht flexionslose mit flectierten stämmen, sondern zwei flexionslose zu einem neuen zusammengesetzten flexionslosen verbunden, und dieser ist dann erst flectiert worden. diese auch von mir (verbalend. s. 32 f.) ausgesprochene auffassung hat Curtius selbst früher mit entschiedenheit behauptet; denn er sagt (chronologie s. 248): 'composita wie skt. nara-siha-s mannlöwe, griech. Aoro-rpάpo-c, lat. locu-ple-s sind vom standpuncte der spätern sprache aus eigentlich gar nicht zu begreifen, die stämme nara λoyo locu oder loco sind für diese zeit ein anachronismus.' er nimt ihren ursprung daher in der zeit vor dem entstehen der nominal

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