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die fünfte hier zu betrachtende stelle findet sich s. 1456' 19 ff. (18, 18) und heiszt: ἐν δὲ ταῖς περιπετείαις καὶ ἐν τοῖς ἁπλοῖς πράγματι στοχάζονται ὧν βούλονται θαυμαστῶς, τραγικὸν γὰρ τοῦτο καὶ φιλάνθρωπον· ἔτι δὲ τοῦτο, ὅταν ὁ σοφὸς μὲν ὢν μετὰ πονηρίας (δέ) ἐξαπατηθῇ, ὥσπερ Σίσυφος, καὶ ὁ ἀνδρεῖος μὲν ἄδικος δὲ ἡττηθῇ. auch durch diese stelle, bei welcher übrigens des sinnes wegen die worte τραγικὸν γὰρ τοῦτο καὶ φιλάνθρωπον (vgl. Susemihl zu 18, 18 und 19) wol zum darauf folgenden zu beziehen sind, scheint mir die oben gegebene begriffsbestimmung des tragischen nicht verletzt zu werden: denn die ausdrückliche beifügung des qilάveρшπоν zu dem diesen begriff eigentlich schon mit umfassenden трayıкóv erklärt sich aus der hier beabsichtigten besondern betonung des piλáveрwπоν. sonach bleibt die oben gegebene erklärung des begriffs von тpayiкóc bestehen, und ein dichter musz nach Aristoteles tragisch genannt werden, wenn er es versteht furcht und mitleid zu erregen und dabei unser gerechtigkeitsgefühl zu befriedigen. diese kunst aber wird mit den worten kaì ó Euρıπíδης τραγικώτατός γε τῶν ποιητῶν φαίνεται dem Euripides scheinbar in sehr hohem grade zugesprochen. unsere aufgabe ist es daher genauer zu untersuchen, ob denn Euripides wirklich so ganz unbedingt und ohne jegliche einschränkung als der tragischste dichter von Aristoteles bezeichnet wird, oder ob jenes urteil nur als ein relatives, ein bedingungsweise abgegebenes aufgefaszt werden darf.

Zur lösung dieser frage bemerkt Susemihl (ao. s. 23) dasz der ausdruck 'tragisch' an jener stelle nicht in seinem vollen umfange gebraucht sei, sondern nur um ein wesentliches moment desselben zu bezeichnen; sodann, fährt Susemihl fort, komme es nach Aristoteles nicht blosz darauf an durch die tragödie furcht und mitleid zu erregen, sondern sie so zu erregen, dasz dadurch zugleich eine 'reinigung dieser beiden affecte erzielt werde (vgl. die definition der tragödie 1449b 24 [6, 2]). nur von ersterem aber spreche Aristoteles im 13n capitel (nach der ansicht Susemihls), die auseinandersetzung des letzteren, die wir nicht mehr besitzen, habe überhaupt erst nach dem 14n capitel begonnen; dasz also dem Euripides auch nur auf der bühne das letztere am besten gelinge, liege nicht im mindesten in den worten. so wahrscheinlich uns nun auch die hier wiedergegebenen vermutungen Susemihls an und für sich erscheinen, so glauben wir dieselben, zumal die doch immerhin noch heikle frage von der kάoαρсic auch hereinspielt, womit dann anderseits das in der definition der tragödie fehlende pilάvepшπоν in collision kommt, doch nicht gerade als beweismaterial verwenden zu sollen, wollen uns vielmehr im wesentlichen nur an das von Aristoteles ausdrücklich gesagte halten, was übrigens auch bei Susemihl keineswegs unberücksichtigt bleibt.

3 oder sollte das qiλávēрwπov in einer gewissen beziehung stehen zu den vorgangen bei der κάθαρσις?

In dieser rücksicht musz zuerst hervorgehoben werden, dasz Aristoteles nicht so schlank weg, ohne jeden weiteren vorbehalt sagt: ὁ Εὐριπίδης τραγικώτατος τῶν ποιητῶν φαίνεται, sondern vorsichtig die worte vorhergeschickt hat: ἐπὶ γὰρ τῶν σκηνῶν καὶ τῶν ἀγώνων τραγικώταται αἱ τοιαῦται (αἱ εἰς δυστυχίαν τελευτώ αν), ἂν κατορθωθῶσιν. Aristoteles schreibt demnach den meisten stücken des Euripides die tragische wirkung nicht unbedingt zu, sondern nur unter dem vorbehalt einer guten scenischen aufführung (vgl. Susemihl ao. s. 22); dasz aber diese eigenschaft nach der ansicht des Aristoteles eine tragödie noch nicht zu einer vollendeten macht, wie von einer solchen vielmehr, gerade im gegensatz zu jener gattung, zu verlangen ist dasz sie die tragische wirkung schon beim bloszen lesen oder, wenn sie uns vorgelesen wird, beim anhören auszuüben vermag, geht aus den beiden folgenden stellen doch wol untrüglich hervor: 14505 18 f. (6, 28) ἡ δὲ ὄψις ψυχαγωγικὸν μέν, ἀτεχνότατον δὲ καὶ ἥκιστα οἰκεῖον τῆς ποιητικῆς· [ὡς] (ἡ) γὰρ τῆς τραγῳδίας δύναμις καὶ ἄνευ ἀγῶνος καὶ ὑποκριτῶν ἐστίν, ἔτι δὲ κυριωτέρα περὶ τὴν ἀπεργασίαν τῶν ὄψεων ἡ τοῦ σκευοποιοῦ τέχνη τῆς τῶν ποιητῶν ἐστίν. und fast noch deutlicher aus 14535 4 (14, 2) δεῖ γὰρ καὶ ἄνευ τοῦ ὁρᾶν οὕτω συνεστάναι τὸν μῦθον ὥστε τὸν ἀκούοντα τά πράγματα γινόμενα καὶ φρίττειν καὶ ἐλεεῖν ἐκ τῶν συμβαινόντων· ἅπερ ἂν πάθοι τις ἀκούων τὸν τοῦ Οἰδίπου μῦθον. also ἐκ τῶν συμβαινόντων, aus dem vorgange selbst, musz das φρίττειν und ἐλεεῖν bewirkt werden, aber nicht etwa aus der ὄψις gewis ein nicht unwichtiges argument dafür dasz Aristoteles durch den zusatz ἂν κατορθωθῶσιν das lob des Euripides nicht ohne absicht hat einschränken wollen.

Zur weitern beurteilung des wahren wertes von ὁ Εὐριπίδης τραγικώτατος τῶν ποιητῶν φαίνεται müssen wir den anfang jener stelle mit in betracht ziehen, wo es heiszt: diò kai oi Eůpiñídņ ἐγκαλοῦντες τὸ αὐτὸ ἁμαρτάνουσιν, ὅτι τοῦτο (dasz er männer vorführt, welche furchtbares erlitten und auch selbst vollführt haben) δρᾷ ἐν ταῖς τραγῳδίαις καὶ πολλαὶ αὐτοῦ εἰς δυστυχίαν τελευτῶσιν· τοῦτο γάρ ἐστιν, ὥσπερ εἴρηται, ὀρθόν. dasz in diesen worten ein lob des Euripides liegt, kann allerdings kaum geleugnet werden; aber es fragt sich nur: wem gegenüber wird denn Euripides hier gelobt, vor wem wird ihm ein vorzug zuerkannt? vor Sophokles, wie viele gelehrte teils stillschweigend, teils unter besonderen erörterungen annehmen, ganz gewis nicht: denn wenn man, um nur das allernächstliegende zu thun, die vorhandenen stücke des Sophokles und Euripides rücksichtlich ihres ausgangs mit einander vergleicht und von den neunzehn vorhandenen stücken des Euripides den Rhesos, als von zweifelhafter echtheit, den Kyklops als satyrdrama, die Alkestis als stellvertretend für ein satyrdrama ausscheidet, so bleiben unter den noch übrigen sechzehn stücken wenigstens immer noch fünf mit versöhnendem, jedenfalls nicht unglücklichem ausgang, nemlich Orestes, Andromache, Iphigeneia

auf Tauris, Helene, Ion. von den sieben erhaltenen stücken des Sophokles dagegen können doch höchstens zwei, nemlich Philoktetes und Oedipus auf Kolonos, als stücke mit glücklichem ausgange bezeichnet werden, während noch fünf mit unglücklichem ausgang übrig bleiben, ein resultat wonach Sophokles hierin hinter Euripides sicher nicht zurücksteht.1 wenn wir nun auch gern zugestehen dasz eine solche berechnung, bei dem geringen bruchteil der uns erhaltenen und in die berechnung einbezogenen stücke beider tragiker, keinen evidenten beweis liefern kann, so scheint es doch, bei der mislichkeit und der für uns zu groszen weitläufigkeit solcher untersuchungen, nicht geboten an dieser stelle auch die verlorenen stücke beider dichter zu berücksichtigen; dagegen wollen wir es auf andere weise wahrscheinlich zu machen suchen, dasz Aristoteles mit jenen worten an einen vergleich zwischen Euripides und Sophokles zu ungunsten des letztern nicht gedacht hat.

Wem aber wollte Aristoteles den Euripides gegenüberstellen, als er ihn als verfasser von tragödien mit unglücklichem ausgang lobte, und wem wollte er etwa als verächtern dieser gattung von tragödien einen vorwurf machen? diese frage scheint mir mit groszer wahrscheinlichkeit schon Ch Cron in dem Erlanger programm von 1845 de loco poeticae Aristoteleae quo Euripides poetarum maxime tragicus dicitur' beantwortet zu haben, wenn er daselbst s. 8 f. schreibt: 'quinam illi sint, Aristoteles non diserte quidem indicat, sed ex iis, quae continuo locum a nobis propositum [1453a 24-31 (13, 9 und 10)] sequuntur, coniectura probabili perspici posse mihi persuadeo. eosdem enim, qui hanc quam Aristoteles maxime probat fabularum compositionem reprehendunt, aliam quandam praetulisse necesse est, et quidem eam cui Aristoteles secundas defert, quae videlicet duplicem habet rerum conversionem.' Aristoteles sagt nemlich 1453 31 (13, 11): δευτέρα δ ̓ ἡ πρώτη λεγομένη ὑπό τινων ἐστὶ σύστασις [ἢ] <ή> διπλήν τε τὴν [cύτασιν] (μετάβασιν) ἔχουσα, καθάπερ ἡ Ὀδύσσεια, καὶ τελευτῶτα ἐξ ἐναν τίας τοῖς βελτίοσι καὶ χείροσιν. diesen stücken mit zwiefältigem ausgang also räumt Aristoteles erst die zweite stelle ein, während er diejenigen mit unglücklichem ausgang für die vorzüglichsten hält; doch bemerkt er gleichzeitig, jene dichtungen mit zwiefältigem ausgange schienen anderen die besten zu sein, für welche beurteilungsweise er auch den grund angibt, indem er fortfährt: dokeî δὲ εἶναι πρώτη διὰ τὴν τῶν [θεάτρων] θεατῶν ἀσθένειαν· ἀκολουθοῦσι γὰρ οἱ ποιηταὶ κατ ̓ εὐχὴν ποιοῦντες τοῖς θεαταῖς.

Sonach scheint es uns nicht unwahrscheinlich, dasz Aristoteles das ganze lob des Euripides nicht etwa dem Sophokles gegenüber, sondern nur im vergleich mit der von uns charakterisierten classe von jüngeren dichtern hat aussprechen wollen, welche allerdings

in procenten ausgedrückt, finden sich bei Euripides 31%, bei Sophokles nur 28% mit glücklichem ausgang.

dem Euripides bedeutend mögen nachgestanden haben. dasz Euripides aber mit den jüngeren dichtern verglichen wird, ist schon an und für sich deswegen nicht unwahrscheinlich, weil Euripides, wenn er auch noch zu den älteren dichtern gerechnet werden kann, doch von diesen jedenfalls derjenige war, welcher vermöge seines ganzen kunstcharakters den jüngeren dichtern am nächsten stand und deshalb auch am meisten von diesen studiert wurde.

Bis hierher haben wir nachzuweisen versucht, dasz Euripides, wenn er auch der tragischste von den dichtern genannt wird, dennoch nicht ein unbeschränktes lob von Aristoteles erhalten hat, indem seine stücke erstens, wie Aristoteles ausdrücklich hinzufügt, einer guten aufführung bedürfen um die tragische wirkung hervorzubringen, während eine wahre tragödie diese wirkung schon beim bloszen lesen erreichen musz; zweitens aber glaubten wir eine einschränkung jenes lobes darin finden zu müssen, dasz es dem Euripides nicht etwa im vergleich mit Sophokles, sondern höchst wahrscheinlich nur im vergleich mit jüngeren tragikern erteilt wird.

II

Mit den bis hierher erörterten einschränkungen bei dem lobe des Euripides hat sich aber Aristoteles noch nicht einmal begnügt; er hat vielmehr in jener unserer betrachtung zu grunde liegenden stelle noch einen ganz positiven tadel gegen Euripides ausgesprochen in den worten εἰ καὶ τὰ ἄλλα μή εὖ οἰκονομεῖ. dasz aber die bedeutung dieses tadels nicht etwa eine nur ganz geringe, dasz vielmehr die richtige handhabung der tragischen ökonomie oder des tragischen haushaltes nach der ansicht des Aristoteles von sehr groszer bedeutung für den tragiker ist, lehrt schon die verhältnismäszig grosze ausführlichkeit mit welcher in der poetik die lehre vom tragischen haushalt vorgeführt wird. wir werden deshalb auch am besten thun, wenn wir die bedeutung und begründung jenes über Euripides ausgesprochenen tadels an der hand der poetik selbst darzulegen versuchen.

Unter dem tragischen haushalt eines tragikers ist dasselbe zu verstehen, was die kunsttheorie als qualitative und quantitative teile der tragödie bezeichnet. qualitative teile die Aristoteles vorzugsweise behandelt hat und auf die auch wir demgemäsz besonders eingehen unterscheidet Aristoteles 1450 9 f. (6, 9) sechs, nemlich μύθος, ἤθη διάνοια, ὄψις, λέξις, μελοποιία. von diesen sechs qualitativen teilen der tragödie sind wiederum die beiden ersten, welche man als tragische fabel und als charakterschilderung zu bezeichnen pflegt, von ganz besonderer bedeutung und deshalb auch von Aristoteles ausführlicher behandelt. er sagt nemlich 1450* 38

5

übrigens scheint in der ausdrucksweise des Aristoteles 1453 b 27 ff. (14, 12) οἱ παλαιοὶ . . καθάπερ καὶ Εὐριπίδης zu liegen, dasz er den Euripides nicht unbedingt zu den alten dichtern rechnet.

(6, 20): ἀρχὴ μὲν οὖν καὶ οἷον ψυχὴ ὁ μῦθος τῆς τραγῳδίας, δεύτερον δὲ τὰ ἤθη. bei der eingehenderen behandlung dieser beiden wichtigsten qualitativen teile führt nun Aristoteles zur erläuterung häufig beispiele aus den tragödien des Sophokles und Euripides in der weise an, dasz das verfahren beider dichter in jedem einzelnen falle dabei beurteilt wird und uns sich dadurch gelegenheit bietet das Aristotelische urteil über Euripides in zahlreichen einzelnen fällen kennen zu lernen.

Verfolgen wir zunächst die auseinandersetzungen des Aristoteles über die tragische fabel, so finden wir hier vier stellen, an welchen Euripides in nicht unwesentlichen puncten getadelt wird, und zwar dreimal im vergleich mit Sophokles, dessen verfahren in den betreffenden fällen jedesmal dem von Euripides befolgten vorgezogen wird.

Das 14e capitel der poetik handelt von den mitteln und stoffen welche zur erregung von furcht und mitleid ganz besonders geeignet seien, und für solche erklärt dann Aristoteles diejenigen wobei jemand eine that vollbringt, ohne das furchtbare derselben zu erkennen, und erst nachträglich deren furchtbare bedeutung einsieht. dies ist nach der ansicht des Aristoteles im Oedipus des Sophokles der fall, während die Medeia des Euripides mit dem vollen bewustsein von der furchtbarkeit ihrer that die eigenen kinder tötet: 14536 27 (14, 12 und 13) ἔστι μὲν γὰρ οὕτω γίνεσθαι τὴν πρᾶξιν ὥσπερ οἱ παλαιοὶ ἐποίουν εἰδότας καὶ γινώσκοντας, καθάπερ καὶ Εὐριπίδης ἐποίησεν ἀποκτείνουσαν τοὺς παῖδας τὴν Μήδειαν· ἔστι δὲ πρᾶξαι μέν, ἀγνοοῦντας δὲ πρᾶξαι τὸ δεινόν, εἶθ ̓ ὕστερον ἀναγνωρίσαι τὴν φιλίαν, ὥσπερ ὁ Σοφοκλέους Οἰδίπους. dasz aber in diesem falle das verfahren des Sophokles von Aristoteles dem des Euripides vorgezogen wird, zeigt 1454 2 f. (14, 18) βέλτιον δὲ τὸ ἀγνοοῦντα μὲν πρᾶξαι, πράξαντα δὲ ἀναγνωρίσαι· τό τε γὰρ μιαρόν οὐ πρόσεστι, καὶ ἡ ἀναγνώρισις ἐκπληκτικόν.

Der zweite punct, in welchem Euripides auf dem gebiete der tragischen fabel gefehlt hat, betrifft die in den tragödien sehr gewöhnlichen fälle von wiedererkennung von personen (avarvúpicic). diese darf nemlich, wie Aristoteles auseinandersetzt, nicht etwa durch vom dichter willkürlich ersonnene, rein äuszerlich herbeigezogene mittel herbeigeführt werden, sondern sie musz durch den naturgemäszen gang der handlung selbst motiviert sein, eine anforderung welcher Euripides in der Taurischen Iphigeneia nur zum teil gerecht geworden ist, indem er zwar die wiedererkennung der Iphigeneia durch Orestes ganz im geiste der fabel des stücks durch den brief herbeiführen läszt, welchen jene dem Orestes zur bestellung an ihren bruder übergibt, dagegen aber den Orestes zu seiner legitimation beliebige dinge sagen läszt, welche im gange der

6 dasz übrigens Euripides nicht immer in diesen fehler verfaller ist, lehrt 1454 4 (14, 19).

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