LXV. Am Grabe des Bruders. ,,Nach altrömischem Glauben lebte der Hingeschiedene auch nach seinem Tode noch unter der Zahl der seligen Manen fort, wenn der Leichnam bei der Verbrennung feierlich consecriert war. Dazu gehörte die genaue Beobachtung bestimmter Riten, ins Besondere Todtenopfer am Grabe verbunden mit solenner Namensanrufung des Verstorbenen 1). Und diesen heiligen Act hatte Catull's Familie am Grabe des in Troas Verschiedenen nicht darbringen können.“ -,,Deshalb auch hat es Catull (in dem vorhergehenden Gedichte v. 55-58) so schmerzlich beklagt, dass seines Bruders Asche im fremden Lande beigesetzt sei." (Westphal). ... • Erst durch die bithynische Reise erhält der Dichter die Möglichkeit an der Grabstätte des Bruders unter Anrufung des Verstorbenen die Todtenspenden darzubringen. Vergleiche die Situation bei Horaz in der Archytas-Ode I, 28. Multas per gentes et multa per aequora vectus Ut te postremo donarem munere mortis Et mutam nequidquam adloquerer cinerem, 5 Quandoquidem fortuna mihi tete abstulit ipsum, 10 Accipe fraterno multum manantia fletu, Atque in perpetuum, frater, ave atque vale! 1) Vergl. Odyssee VIIII, 64-66: οὐδ ̓ ἄρα μοι προτέρω νῆες κίον αμφιέλισσαι, B. LXVI. Der Tod des Sperlings. Das Gedicht ist früher als No. 64 gedichtet. Noch sind die Beziehungen Catull's zu dem Hause der Clodier freundlich. Lesbia's Liebling ist gestorben, ihr Sperling oder war's ein Fink? von dem der Dichter in einem andern Liede ein anmuthiges Genrebildchen entworfen: quicum ludere, quem in sinu tenere, quoi (= cui) primum digitum dare adpetenti et acres solet (Lesbia) excitare morsus. Es ist begreiflich, dass sein Tod die Herrin betrübte; aber sie muss in Schmerz ganz aufgelöst gewesen sein, um nicht nur v. 18, sondern überhaupt diesen Aufwand von Klagen und Verwünschungen verständlich zu machen. Dieses Missverhältniss zwischen der Ursache und der Aeusserung der Wirkung gibt dem Gedichte deutlich eine gewisse ironische Färbung; zugleich characterisiert es die Lesbia: Naturen, die im Eindrucke des Augenblicks untergehen, entbehren des inneren Haltes, der Beständigkeit, der Treue. Das gibt dem kleinen Gedichte Perspective und damit Bedeutung für das fernere Leben des Dichters. (0. Ribbeck S. 33 sieht in dem Gedichte,,eine Bewerbung um den vacanten Platz".) LXVI. v. 11. Das sidolov hüpft hinab zum Orkus: welch' ein Bild! LXVII. Abschied von Bithynien. Mit dem Frühjahr des Jahres 56 verlässt der Dichter Bithynien, wie es scheint, mit Freuden; Memmius mochte nicht ganz seinen Erwartungen entsprochen haben. In einer poetischen Zuschrift nimmt er Abschied von seinen Genossen. Iam ver egelidos refert tepores, LXVIII. Der heimkehrende Dichter und sein Schiff. Phaselus ille, quem videtis, hospites, Ait fuisse navium celerrimus, 5 Opus foret volare sive linteo. Rhodumque nobilem horridamque Thraciam. LXVII. v. 4. Phrygii campi] Bithynien wurde damals zu Phrygia major gerechnet. v. 5. Nicaeaeque] Strabo XII, 4 § 7 (p. 565): Νίκαια ἡ μητρόπολις τῆς Βιθυνίας ἐπὶ τῇ Ασκανία λίμνῃ· περίκειται δὲ κύκλῳ πεδίον μέγα καὶ σφόδρα εὔδαιμον, οὐ πάνυ δὲ ὑγιεινὸν τοῦ θέρους. v. 6. Asiae] Asia als Provinz ist das westliche Kleinasien. LXVIII. Der Character des Metrums entspricht der stätig vorwärtsstrebenden Heimfahrt. v. 6-10. Der Dichter überschaut rückwärts den Weg des Schiffes, das aus Bithynien stammend von ihm wohl erst nach Beendigung seiner Fussreise per claras Asiae urbes etwa in Rhodos bestiegen ist. Den Gegensatz zu den mannichfach kreuzenden Fahrten, die das Schiff zum Theil schon vor der grossen Reise nach dem Garda-See gemacht, bildet v. 26 quiete. v. 11. Vergl. Horaz od. I, 14 v. 11 und 12. v. 13. Amastri. Cytore] Cytorus war ein Theil der paphlagonischen Seestadt Amastris. Strabo XII, 3 § 10 (p. 545): πλείστη δὲ καὶ ἀρίστη Tibi haec fuisse et esse cognitissima Sibi esse facta, cum veniret a mari LXVIIII. Ankunft auf Sirmio. Paeninsularum, Sirmio, insularumque O quid solutis est beatius curis, 10 Desideratoque adquiescimus lecto. Hoc est, quod unum est pro laboribus tantis. πύξος φύεται κατὰ τὴν Ἀμαστρια- v. 18. inpotentia freta] vergl. Horaz od. III, 30 v. 3: aquilo inpotens: der sich nicht mehr in seiner Gewalt hat. v. 24. hunc] zum Garda-See durch den Mincio. Stille der Heimat sich sehne (vergl. v. 27. Vergl. Horaz od. I, 3 v. 2: Sic (te) fratres Helenae, lucida sidera, regant navis! LXVIIII. v. 9. larem] vergleiche No. 71 v. 84, Anm. v. 13. Libuae] die Libui waren ein keltischer Stamm, nördlich vom Po; also sind Libuae undae die des Garda-Secs. v. 14: alles was zu Hause lacht (oder lachen kann), mögejetzt seinLachen erschallen lassen." (Westphal.) Der mit quidquid beginnende Satz ist demnach Subject zu ridete. Doch ist es auch möglich denselben als eine Art attributiven Accusativs zu fassen. C. LXX. Ariadne's Leid und Trost. Alles mildert die Zeit. Allmählich hat der Schmerz um Lesbia's Untreue in des Dichters Brust nachgelassen, er vermag sein Leid objectiv sich gegenüber zu stellen: mit einer Art selbstquälerischer Lust hält er in der bekannten Sage von der treulos verlassenen Creterin Ariadne sich einen Spiegel entgegen, sich selbst, sein Leid darin zu beschauen. Denn sich meint er mit der Ariadne. Aber wie die verlassene Tochter des Minos getröstet wird schon naht der Festzug des Bacchus: so hält er fest an der Hoffnung auf Trost und endliche Entschädigung durch die Götter, wie er in andern Gedichten direct ausspricht. - Es ist ein Beweis für die gewonnene Fassung Catull's, dass er eine kunstvolle Form zum Ausdruck seiner Gefühle wählt. Das Gedicht ist als Nomos (No. 64, Einl.) angelegt. Aber die Hochzeit des Peleus und der Thetis, aus welcher er die Archa und die Sphragis gewinnt, bildet doch nur einen äusserlich um die Klagen der Ariadne gelegten Rahmen: wie denn auch die Verknüpfung nur von aussen her hineingetragen wird. Es geschieht daher der Ariadne kaum Eintrag, wenn der Omphalos des Nomos aus der Verbindung des rein epischen Aussenwerks gelöst wird. a. In Peleus und Thetis verbinden sich die Menschen mit den Göttern. b. Den Festpalast zu schauen eilen die Sterblichen der Umgegend herbei. c. Besonders bewundern sie den Brautteppich, in den das Bild der verlassenen Ariadne hineingewebt ist. d. Von diesem Bilde geht nun der Omphalos aus, c'. Die verlassene Ariadne also stellte der Teppich dar. a'. Es nahmen die Götter mit Festgaben, darunter die Parzen, е. So verkehrten sonst die Götter mit den Sterblichen, aber jetzt um der menschlichen Verderbtheit willen nicht mehr. Die Abfassung des Gedichtes fällt etwa ins Jahr 58. Es gliedert sich in den Verrath des Theseus, die Klagen der Verlassenen, die Bestrafung des Schuldigen und Errettung Ariadne's. (Westphal). |