Die Ergebnisse der besprochenen Versuche lassen sich dahin zusammenfassen, dass im kalten Zustande bewirkte Formänderungen die Eigenschaften des Materials verändern, und dass der Grad und die Art dieser Materialveränderung von der Gröfse und der Richtung der Formänderung zu der späteren Belastungsrichtung abhängig sind. Ueber den Einfluss des Richtens auf die Zugfestigkeit des Materials geben sie keinen unmittelbaren Aufschluss. Dieser Einfluss ist aber von grofser Bedeutung bei der Ermittlung der Festigkeitseigenschaften des Materials aus den Wandungen cylindrischer metallener Gefäfse, besonders von Dampfkesseln, Kochern und Gasbehältern. Es liegt nahe, den Einfluss des Richtens durch vergleichende Versuche mit ganzen Rohren und mit Probestreifen, die aus den Rohren entnommen sind, zu ermitteln. Ueber eine solche Untersuchung, angestellt auf dem Sandvikener Eisenwerk mit nahtlosen Rohren von 38 bis 40 mm Dmr. und etwa 3,5 mm Wandstärke, berichtet Wahlberg 1). Die Untersuchung erstreckte sich auf Zugversuche mit ganzen Rohrabschnitten und mit daraus entnommenen Längsstreifen (Breite gleich dem halben Rohrumfange), die unter dem Dampfhammer bei verschiedenen Wärmegraden flach gehämmert waren. Die Versuche ergaben für die gerichteten Probestreifen höhere Festigkeit, besonders an der Streckgrenze, und geringere Bruchdehnung als für die Röhren im ganzen. Die Unterschiede waren umso gröfser, je geringer die Erwärmung beim Richten der Streifen gewesen war. Das Kaltrichten ergab für Material mit 0,23 vH Kohlenstoff annähernd die gleichen Festigkeiten wie das Richten im rotwarmen Zustande, dagegen war die Dehnung der kaltgerichteten Proben kleiner als die der warmgerichteten. Beachtet man nun, dass die Bruchsicherheit von Hohlgefäfsen genannter Art vornehmlich von dem Widerstande der Wandungen gegen die durch den herrschenden inneren Ueberdruck erzeugten Tangential spannungen abhängt, so ergiebt sich, dass das Sandvikener Verfahren zur Prüfung des Einflusses des Richtens nicht recht geeignet ist. Es erfordert aufserdem auch noch eine besondere Untersuchung darüber, ob das Richten quer zur späteren Zugrichtung den gleichen Einfluss ausübt wie das Richten von Stäben, die in der späteren Zugrichtung gekrümmt sind. 100000000000 Fig. 3. R R Unter diesen Umständen erscheint es zweckmäfsig, die Proben aus Gefäfswandungen stets in der Querrichtung zu entnehmen. Bei Untersuchungen über den Einfluss des Richtens sind dann die Eigenschaften des Materials im gebogenen Zustande durch Belastungen zu ermitteln, die tangential zur Krümmung gerichtete Spannungen erzeugen. Bei dünnwandigen Röhren geschieht dies auf einfachste Weise durch Prüfung auf inneren Druck, sofern dafür Sorge getragen wird, dass bei der Druckprüfung keine andern als die beabsichtigten Tangentialspannungen auftreten. Längsspannungen lassen sich bei Material, welches ohne voraufgehendes Fliefsen reifst, s. Fig. 2, durch Abschluss der Rohrenden mittels eingesetzter, in der Längsrichtung frei beweglicher Dichtungsstulpe nach dem von mir angegebenen Verfahren), das aus Fig. 3 ohne weiteres verständlich ist, leicht vermeiden. Bei dehnbarem Material müssen die Rohrenden durch übergeschobene Ringe R, Fig. 3, oder Drahtumwicklungen gegen Aufweiten gesichert sein, damit die Stulpe nicht umschlagen und herausgedrückt werden. Dann entstehen aber nach Ueberschreitung der Streckgrenze durch das nur in der Mitte stattfindende Aufweiten des Rohres, Fig. 4, Längsspannungen 1, die sich aus der Gleichung p(F1-F)) 1) Stahl und Eisen 1895 S. 715. 2) Rudeloff: »Festigkeitsuntersuchungen von Kondensationsrohren aus Messing. Mitteilungen a. d. kgl. mechanisch-technischen Versuchsanstalt 1892 S. 101. berechnen, wenn bedeutet: f den Querschnitt der Rohrwandung, p den inneren Ueberdruck, F den lichten Rohrquerschnitt an den Abdichtungen (Enden), Fi den lichten Rohrquerschnitt an der meist geweiteten Stelle. Die Längsspannung nimmt also mit wachsendem p und Fund abnehmendem f beständig zu. Hierzu kommt, dass die Behinderung der Dehnung an den Rohrenden bei dehnbarem Material noch Querspannungen erzeugt, die dem Aufweiten entgegenwirken. Ihr Einfluss lässt sich zwar durch Verwendung möglichst langer Rohrproben auf ein geringes Mafs zurückführen; die langen Proben bergen aber die Gefahr in sich, dass sie sich infolge mangelnder Gleichartigkeit des Materials beim Versuch krümmen, s. Fig. 5, und dass dann die lose hinter den Stulpen eingelegten Stopfen herausfliegen. Fig. 4. A) Anlieferungszustand (ungeglüht) B) ausgeglüht deutscher Ingenieure. C) kalt gebogen, ausgeglüht und kalt gerichtet Zur Reihe C wurden die Streifen nach 4 verschiedenen Radien, nämlich nach 500, 300, 200 und 180 mm, zu den Reihen D und E nach 500 und 180 mm Radius gebogen. Hieraus ergaben sich insgesamt 10 Reihen. Zu den Reihen Aus den besprochenen Gründen nahm ich davon Abstand, die im Nachstehenden mitgeteilten Versuche über den Einfluss des Richtens an Rohrabschnitten durchzuführen, und zog es vor, das Probematerial durch Biegen und darauf folgendes Richten von Blechabschnitten zu gewinnen. Um hierbei den Einfluss des Biegens auf das Versuchsergebnis auszuscheiden und nur den Einfluss des Richtens festzustellen, wurden die Proben nach dem Biegen ausgeglüht, dann kalt gerichtet und ihre Eigenschaften mit denen ausgeglühter, aber nicht gebogener Stäbe in Vergleich gestellt. Hierbei wurde langenommen, dass der Einfluss des Biegens durch das nachfolgende Ausglühen vollständig wieder verschwindet. Um hierüber Aufschluss zu erhalten, war eine Nebenuntersuchung mit Probestreifen auszuführen, die kalt gebogen, kalt gerichtet und dann erst ausgeglüht wurden. Traf die Annahme von dem Einfluss des Ausglühens zu, so mussten die letztgenannten Proben die gleichen Versuchsergebnisse liefern wie die nur ausgeglühten Streifen. Nebenbei sollte der summarische Einfluss des Biegens und Richtens festgestellt werden. Hierzu wurden die Probestreifen kalt gebogen, kalt gerichtet und ohne Ausglühen geprüft und ihre Eigenschaften dann mit denen für das Material im Anlieferungszustande verglichen. Die gesamte Untersuchung umfasste somit 5 Reihen mit Streifen von folgenden Zuständen: B bis E wurden je 30 Längsstreifen aus demselben Blech entnommen. Die Streifen wurden in der Reihenfolge der Entnahme mit laufenden Nummern 39 bis 65 versehen und so auf die einzelnen Versuchsreihen verteilt, dass Ungleichmässigkeiten im Material möglichst ausgeglichen waren. Zur Reihe A lagen bereits 33 Versuche im Anlieferungszustande aus einer andern Untersuchung vor. Fig. 6. Sämtliche Streifen erhielten 380 mm Länge und 50 mm Breite. Das Biegen erfolgte nach Fig. 6 zwischen zwei Lehren aus hartem Holz unter stetig wachsendem Druck. Die zur Erzielung der gewünschten Biegungshalbmesser erforderlichen Krümmungshalbmesser der Lehren wurden durch Vorversuche ermittelt, und dann wurden die wirklich erreichten Biegungshalbmesser an jeder Probe festgestellt. Das Richten geschah Band XXXXV. Nr. 2. 12. Jannar 1901. Rudeloff: Einfluss des Biegens und Richtens auf die Festigkeitseigenschaften von Flusseisen. zunächst zwischen 2 Platten unter der Presse, und dann, soweit erforderlich, mittels Kupferhammers. Um die Längenänderungen festzustellen, welche das Biegen und Richten zur Folge hatte, wurden die Probestreifen vor dem Biegen auf beiden Breitseiten mit Zentimeterteilung versehen. Die Teilung umfasste 280 mm symmetrisch zur Stabmitte, sodass also etwa 50 mm an beiden Enden von der Zum Messen diente ein Messung ausgeschlossen wurden. dünnes Stahlbandmafs. Ermittelt wurden im ursprünglichen Zustande und nach dem Richten die Gesamtlängen der beiderseitigen Teilungen, im gebogenen Zustande dagegen die Länge jedes einzelnen Teilungsabschnittes. b) Die Veränderungen der Festigkeitseigenschaften. Die mit Martens schen Spiegelapparaten ermittelten Werte für den Dehnungszuwachs bei Steigerung der Belastung in Stufen von je 1000 kg sind in der Zahlentafel 1 (S. 50) zusammengestellt und nach den Mittelwerten 2) die Schaulinien, Fig. 9, verzeichnet. Die Lage der Proportionalitätsgrenze ist durch kleine Kreise gekennzeichnet. Bei den Reihen A und D, d. h. für das ungeglühte Material und für die nach dem Biegen und Richten ausgeglühten Stäbe, ist die Proportionalitätsgrenze gut ausgeprägt. Bei der Reihe B mit den ungebogenen aber geglühten Stäben liegt die P-Grenze nach den Dehnungen der Stäbe 39 und 57, s. Zahlentafel 1, bei 6 t; der Stab 48 zeigte überhaupt keine Proportionalität. Infolgedessen scheint die P-Grenze nach den Mittelwerten bei 4t zu liegen; ich habe aber geglaubt, sie nach dem Ergebnis der beiden erstgenannten Versuche bei 6 t annehmen zu sollen. Bei der Reihe E ist die Lage der P-Grenze unsicher, und bei der Fig. 9. Einfluss des Biegens und Richtens auf den Verlauf der Dehnung. 12 t Belastung 10 ⚫ im gebogenen Zustande Druckseite o im gerichteten Zustande +4 8 Beachtenswert erscheint mir bei diesen beiden Reihen und auch bei vielen der übrigen Versuche mit den gerichteten Stäben (s. Zahlentafel 1), dass gleiche Laststufen anfänglich gröfseren Dehnungszuwachs ergaben als bei höheren Belastungen. Die Erklärung hierfür möchte ich in Folgendem suchen. Wird ein Stab auf Biegung beansprucht, so entstehen bekanntlich auf der einen Seite, gerechnet von der neutralen Faserschicht, Zugspannungen, auf der andern Druckspannungen. So lange die Belastung innerhalb der Elastizitätsgrenze des Materials bleibt, nehmen die Zug- und Druckspannungen nach der Oberfläche hin proportional mit der Entfernung von der neutralen Faserschicht zu, sodass ihre Verteilung über den Stabquerschnitt durch Fig. 10 dargestellt werden kann, wenn die Entfernung der auf cd gelegenen Punkte von der Senkrechten ab die Gröfse der Spannungen 12. Januar 1901. Zahlentafel 2. Einfluss des Biegens und Richtens auf die Festigkeitseigenschaften des Materials. mittlere Längenänderung infolge des nach dem Biegens Richten Querschnitt Spannungen in kg/qmm Ver hält tionali nis 50 mm 100 min täts $50 $100 grenze OB von der α σε OB VH Bruchstelle Dehnung $50 $100 |