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Erstes Kapitel.

Ilions Fall.

Ilions Fall war seit Jahrhunderten von redenden und bildenden Künstlern dargestellt worden; kein Zeitalter, keine Kunstgattung hatte diesen Stoff sich entgehen lassen. Das alte Epos war von der Lyrik und vom Drama abgelöst worden; die hellenistische Poesie hatte auch diesem Gebiet der Sage neue Frucht in ihrer Weise abgewonnen; die packendsten Szenen aus dem Verlauf der Handlung, von Laokoons Leiden bis zur Flucht des Aeneas waren, von großen Künstlern gestaltet, in mannigfachster Nachbildung vor aller Augen. Und so mußte die Aufgabe, diese allbekannte Geschichte von neuem zu erzählen, einem Dichter höchst reizvoll erscheinen, den der Geist nicht trieb, auf unbetretenen Pfaden zu wandeln, der seinen Ehrgeiz darein setzte nicht durch fremdartige neue Erfindungen zu verblüffen, sondern im Bekannten groß zu sein. In der Tat zeigt sich Virgils Kunst nirgends größer als hier, auf diesem meistbetretenen Abschnitt seines Weges. Diese Kunst in seinem Sinne ganz zu würdigen, ihre eigentümlichen Absichten und Mittel festzustellen würde uns wesentlich leichter fallen, wenn wir auch nur ein oder das andere seiner Vorbilder unverkürzt besäßen; doch auch das wenige, was uns von ihnen geblieben ist, wird sich für unsern Zweck tauglich erweisen. Zunächst aber gilt es, die Aufgabe Virgils in großen Zügen sich klar zu machen.

Ιλιόθεν με φέρων ἄνεμος Κικόνεσσι πέλασσεν hebt Odysseus seine Erzählung an. Da beginnt auch wirklich die Fabel der Odyssee. Die Fabel der Aeneis beginnt mit Ilions Zerstörung, denn da hat die Mission des Helden ihren Ursprung, die Überführung der troischen Penaten nach Latium: also mußte die Iliupersis in das Gedicht aufgenommen werden. Die Erzählung Aeneas selbst in den Mund zu legen, erscheint uns jetzt als einfache Nachahmung der Technik der Odyssee. Aber man mache sich klar,

wie neu und kühn dies Motiv dem Dichter zuerst vor die Seele trat. Die fast ausschließlich an Odysseus selbst haftenden Ereignisse seiner Heimfahrt aus der dritten in die erste Person zu übertragen, das erforderte nur geringfügige Änderungen in der Erzählung. Für Virgil galt es, die durch alle Straßen, Paläste und Heiligtümer Trojas wogenden Ereignisse des nächtlichen Kampfs, die Taten und Leiden einer ganzen Reihe von Personen als Erlebnisse eines einzigen vorzutragen. Welche Schwierigkeiten. das bot, sieht man leicht; aber es bot zugleich den eminenten künstlerischen Vorteil der Konzentration: so und nur so konnte aus einer bunten Folge unzusammenhangender Szenen eine Einheit werden, die dem virgilischen Kompositionsideal entsprach. Und die Fassung der Aufgabe eröffnete zugleich ganz ungesucht einen Weg, den noch kein Erzähler der Iliupersis gegangen war: noch nie waren diese Ereignisse im Zusammenhange von einem Troer erzählt worden. Wohl hatten sich die Dramatiker, insbesondere Euripides in seinen Iliupersisdramen auch in die Seele der Unterlegenen versetzt; aber was hier gegeben wurde, konnten doch nur einzelne Episoden oder allgemeine Schilderungen der Schreckensnacht sein. Nun erzählt bei Virgil kein beliebiger Troer, sondern der Ahnherr des römischen Volks: dadurch wurde das Ethos der Erzählung sofort näher bestimmt, wurden die Gesichtspunkte gegeben, die in ihr zu dominieren hatten. Denn sofort erhoben sich hier neue Klippen, die mit umsichtiger Kunst zu umsegeln waren; Klippen freilich, die eben nur für den Römer existierten und die wir uns erst mit einiger Mühe vergegenwärtigen können. Die Ahnen der Römer sind besiegt und weichen, indem sie auf Vergeltung und neuen Sieg verzichten; Aeneas hat den Fall seiner Vaterstadt überlebt, hat die Trümmer verlassen, um in der Fremde eine neue Stadt zu gründen. Notwendigerweise muß der Römer bei diesem Gedanken zunächst ein Gefühl tiefer Beschämung empfinden. Für ihn ist Rom, was für Aeneas Ilion war: wie vermöchte ein Römer lieber mit Weib und Kind und Gefolgschaft seiner eroberten Stadt den Rücken zu kehren, als mit ihr zu fallen? Wie vermöchte er sich die Götter seiner Stadt in die Fremde getragen zu denken?

Man muß, um sich in diese Anschauungen zu versetzen, etwa die Rede lesen, die Livius den Camillus halten läßt, als die Übersiedelung der Römer nach Veji in Frage steht (V 41 ff.).

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Ich hebe nur einzelne Sätze heraus: Auch dies ist ein Kampf um die Vaterstadt, dem sich, solange das Leben währt, zu entziehen für andere schimpflich, für einen Camillus gottloser Frevel Unsere Stadt ist auf grund von Auspicien und Augurien gegründet; keine Stätte in ihr, an der nicht heilige Pflichten hafteten, an der nicht Götter wohnten; die feststehenden Opfer haben nicht nur ihren festen Tag, auch ihren festen Ort. All diese Götter des Staats und der Familie wollt ihr verlassen? Man wird

uns ansehen nicht als Sieger, die ihre Stadt verlassen, sondern als Besiegte, die ihre Stadt verloren haben; die Niederlage an der Allia, die Eroberung der Stadt, die Belagerung des Kapitols wird uns gezwungen haben, uns selbst zu Verbannung und Flucht von der Stätte zu verurteilen, die wir nicht zu schützen vermochten Wäre es nicht besser in Hütten nach Hirten Weise an unseren heiligen Stätten zu wohnen als mit gesamtem Volk in die Verbannung zu gehen? So wenig hält uns der heimische Boden und diese Erde, die wir Mutter nennen, und die Vaterlandsliebe hängt nur in der Luft, an Bauten und Balken?'

Im weiteren Verlauf der Aeneis wird das Bedrückende jener Vorstellung gemildert: es stellt sich heraus, daß die Penaten nicht in die Fremde übersiedeln, sondern in ihre Urheimat zurückkehren. Für die Iliupersis gilt dieser Trost noch nicht: da ist Troja die Heimat, aus der Aeneas vertrieben wird. Den Gefühlen der Beschämung vorzubeugen, die Troer insgesamt, vor allen aber seinen Helden gegen die Vorwürfe der Feigheit oder Schwäche, der kleinmütigen Verzagtheit und der Untreue gegen die Vaterstadt zu sichern, darauf mußte in erster Linie Virgil sein Augenmerk richten.1) Die Sympathie mit dem Besiegten steigt, wenn die mit dem Sieger fällt, somit mußten zweitens die Griechen, wenn auch mit größter Vorsicht, um den Schein der Gehässigkeit zu vermeiden, des Glanzes beraubt werden, der den Erfolg zu umstrahlen pflegt. Die Grundlinien der Erzählung waren in der Tradition gegeben; mit der Erfindung neuer Wendungen, neuer

1) Die alten Erklärer weisen darauf mehrfach ganz richtig hin, s. Georgii, Die antike Aeneiskritik 46 f., der nur ohne jeden Grund schließt, daß sie damit eine große Kritik gegen den Charakter des Aeneas abwehren: einer der leider sehr zahlreichen Fälle in Georgiis Buch, wo die Hinweise der Erklärer auf nicht ganz offen zu Tage liegende Intentionen des Dichters umgedeutet werden in Verteidigungen.

Motive, die seinen Zwecken dienen konnten, mußte der Dichter sehr sparsam sein, sonst hätten seine Leser nicht den Fall Ilions wiedererkannt. Seine Kunst mußte also, was den Stoff anlangt, wesentlich darin bestehen, aus dem reichen Schatze der Überlieferung auszuwählen, was seinen Absichten taugen konnte, alles andere nur zuzulassen, insoweit es nicht zu umgehen war.

Diese einfachen Erwägungen lassen es von vornherein wenig wahrscheinlich sein, daß Virgil ausschließlich oder auch nur vornehmlich einem seiner Vorgänger gefolgt sei; denn keiner von ihnen hatte Virgils Ziele verfolgt, weder im Stofflichen noch im Formalen. Auch war Virgil bei seinem Werk in keiner Richtung beschränkt; weder hatte irgend eine ältere Iliupersis kanonische Geltung erlangt, sodaß ein Abweichen übel vermerkt worden wäre, noch darf man sich etwa seine Kenntnis der Tradition in enge Grenzen eingeschlossen vorstellen; es erscheint selbstverständlich, daß er entweder selbst oder durch gelehrte griechische Freunde alles zu Rate gezogen hat, was von einschlägigen Darstellungen damals überhaupt noch Kurs hatte.

Virgils Iliupersis besteht aus drei Teilen: der Vorbereitung durch Aufnahme des hölzernen Rosses v. 13-249, der Nyktomachie 250-558, dem Abzug des Aeneas 559-803. Man sieht, diese Teile haben annähernd den gleichen Umfang, also maß ihnen der Dichter die gleiche Bedeutung bei. Fehlerhaft wäre ihm, schon äußerlich betrachtet, eine Kompositionsweise wie etwa die Tryphiodors erschienen, bei dem den beiden ersten virgilischen Teilen etwa fünfhundert und zweihundert Verse entsprechen, und aus demselben Grunde wäre es ihm unzulässig erschienen, den Abzug des Aeneas, der für die Römer das wichtigste Ereignis des Ganzen war, etwa in wenigen Versen abzuhandeln: die Kürze der Behandlung kann vielleicht im Drama, nicht aber im Epos durch Intensität der Handlung ausgeglichen werden.

Wir folgen nun dem Gang der Erzählung.

I.

Troja war zehn Jahre lang vergebens von den Griechen berannt worden: endlich verbargen sich diese in einem hölzernen Rosse, das die Troer selbst in die Stadt zogen; in der Nacht entstiegen die Verborgenen ihrem Versteck und übermannten die schlafenden Troer. Diese alte Sage mußte frühzeitig kritische

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Bedenken wecken: wie konnten die Troer so arglos und töricht sein, selbst ihr Verderben in die Stadt zu ziehen? Man meint noch verfolgen zu können, wie diese Bedenken zu immer reicherer Ausgestaltung der Sage führten; wenngleich es rein hypothetisch bleiben muß, ihre uns vorliegenden chronologisch meist ganz unbestimmbaren Formen nach diesem Prinzip zu ordnen. Nach dem Bericht der Odyssee ( 502 ff.), den auch Proklos als den der Iliupersis des Arktinos gibt und der bei Apollodor zu grunde liegt, wird das Roß ohne weiteres auf die Akropolis gezogen: erst dort beratschlagt man, was damit zu tun sei, und entschließt sich so Proklos es der Athena zu weihen. Sinon, der in der Odyssee nicht erwähnt wird, hat bei den Mythographen nur die Aufgabe, den Schiffen der Griechen das Feuerzeichen zu geben, und zwar tut er das bei Apollodor vom Grabhügel des Achill aus, bei Proklos in der Stadt selbst: Sinon mußte nicht nur wissen, daß das Pferd in der Stadt ist, sondern auch daß die Troer schlafen; zu diesem Zweck mußte er vorher durch irgend welche Verstellung sich hinein geschlichen haben.1) — Die Tabula Iliaca lehrt uns, daß er in der kleinen Ilias noch mehr tat: er schreitet da vor dem Rosse einher; aus den späteren Formen der Sage dürfen wir schließen, daß er die Aufnahme des angeblichen Weihgeschenks bewirkt hat. Man sieht, hier wurde der Argwohn der Troer gleich anfangs rege, Lug und Trug der Griechen zerstreuten ihn; die Handlungsweise der Troer wird erklärt, ihrer Verblendung die Schlauheit des Feindes gegenübergestellt. Wenn Sophokles einen Sinon schrieb, Aristoteles aber Sinon als einen der aus der kleinen Ilias gezogenen Tragödienstoffe nennt, so ist die Vermutung gegeben, daß eben diese Täuschung der Troer durch Sinon den Kern des Dramas bildete. Weiterhin scheint man aber selbst diese Motivierung nicht mehr für ausreichend gehalten zu haben. Daß es einem einfachen Schwindler gelang, den weisen Priamos und seine weisen Geronten so zu betören, das konnte in der Tat einem Zeitalter befremdlich sein, das gewohnt war, moderne Maßstäbe an die alten Sagen zu legen. So wird irgend ein hellenistischer Dichter den Schritt getan haben, die Laokoonsage, die zwar bereits mit dem Fall Trojas, aber noch

1) πρότερον εἰσελθὼν προςποίητος Proklos; man denkt an die πτωχεία des Odysseus.

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