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blieb. Eine Abfindung für ihn mag erfolgt sein, da Kirchensäge und Vogtsteuer von Schwyz noch lange beim habsburgischen Hause geblieben.

Doch wagen wir lieber noch einen Blick rückwärts, um uns die Erscheinung Tell's zu erklären.

VI. Tell,

ein Sohn der Wildniß.

Die Zweifel, welche sich in unserer Zeit gegen die Sage Tell's erhoben, rühren zum Theil von ganz ausgezeichneten Geschichtsforschern her; so z. B. sagt Schwegler im ersten Bande seiner Römischen Geschichte 312: „Wie leicht willkürliche Erdichtungen, zumal wenn sie dem Selbstgefühle einer Nation schmeicheln, in Volkssage und Volksglaube übergehen, beweiset die schweize= rische Nationalsage Tell." Derselbe Schriftsteller verwirft unsere Sage, weil ihr gleichzeitiges und glaubwürdiges Zeugniß mangele.

Nach diesem Maßstabe müßten wir alle alten Traditionen verwerfen und könnten eine große Menge historischer Sagen mit der Scheere des Zweifels zerschneiden. Die Sage hat aber anerkanntermaßen, sobald sie natürlich und ihrer Zeit und den Umständen, d. h. dem Lande und der Entwicklungsstufe der Einwohner angemessen ist, ihre Berechtigung, um so mehr, wenn, wie bei unserer Tellenplatte, ein altes Zeugniß sie bekräftigt.

Daß Stubengelehrte einen Tell schwer verstehen, um

so mehr, wenn solche sein Land nicht gesehen, ist verzeihlich; sie sollten aber die Wirkungen unserer wilden Hochalpen auf die Einwohner, die schon Plinius kannte, studiren; sich erinnern, daß es die Wildniß des sächsischen Urwaldes war, welche ihre Söhne zum Riefenkampfe gegen Karl den Großen anfeuerte, wie die Wildniß von Ronzeval den Helden Roland erschlug.

Zum Glück und Heile für die Sagenwelt sind nicht alle Gelehrte von Zweifelsucht so befangen, daß sie Siegel und Briefe als Beweise aus Zeiten und Ländern verlangen, wo solche noch nicht vorgekommen; so äußert sich ein mir leider nicht bekannter M. in Lehmann's Magazin für Literatur des Auslandes. Leipzig 1863, Nr. 27, S. 319: „Es erregt ein bitteres Gefühl der Enttäuschung, wenn geschichtliche Ueberlieferungen von Heroismus und Seelengröße, die den Jüngling begeistert und zur Bewunderung fortgerissen haben, sich dem Manne durch skeptische Kritik entweder als gewöhnliche Thatsache, die die Phantasie mit einem poetischen Nimbus umgeben hat, oder als völlige Erdichtung erweisen. Unwillkürlich erhebt sich gegen den Zweifel der Zweifel und der Wunsch, daß es glücklichern Forschern gelingen möge, das Angezweifelte zu restituiren." Um den Lesern dieser Schrift das Verständniß der Tellsage als Grundstein schweizerischer Erhebung zu erleichtern, müssen wir noch ein Mal tief in die Wildniß unserer Hochalpen zurückblicken und uns mit den Vorzeiten bekannter machen, welche den Tell und seine Enkel geboren, die bei Morgarten, Laupen, Sempach und Näfels die Grundpfeiler unserer Freiheit gesezt haben.

Eine unserer Schwachheiten im Felde geschichtlicher Literatur liegt ohne Zweifel im engen Raume und Umfange unserer Kantonalgeschichten. Geschichte läßt sich unmöglich wie eine Tulpe in einem kleinen Töpfchen treiben; man wird mich daher entschuldigen, daß ich so weit, selbst über die Alpen gegriffen, um die Zeit der Ghibellinen zu schildern, die bei uns so mächtige Ideen und Wirkungen hervorgebracht.

Wildniß unserer Hochalpen nenne ich die zum Theil bewohnbare Gebirgskette zwischen der Rhone und dem Rhein, wo er in den Bodensee fällt. Wie der Tessin und kleinere Bergströme all' ihre Wellen nach Italien hinsenden, so zog auch seit ältester Zeit die ausonische Luft südlicher Abhänge unserer Alpen die Bewohner an und wir haben auf den nördlichen Halden eine andere gemeinschaftlichere Gruppe kleiner Völkerschaften zu betrachten.

Weltberühmt sind dieser tiefen Thäler malerische Formen, deren Frühling vor siebenhundert Jahren unsere Frowin zu wahrhaft dichterischen Bildern begeisterte und 1728, als die neuere Dichtung noch lange schlummerte, den großen Haller mahnte, in seinen Alpen zu singen: „Wo Gothards Haupt die Alpen übersteigt

und der erhabnen Welt die Sonne näher scheint,
hat, was die Erde sonst an Seltenheit gezeugt,
die spielende Natur in wenig Land vereint.“

Dieses wundersame, hochgehobene Stück Erdrinde haucht den Fremdling gewaltig an, so daß er auf der Spize des Sentis, Rigi's, Pilatus, Titlis, Faulhorns, der Grimsel und des Torenthorns glaubt, ein neugeborner

Mensch zu sein. Um wie viel kräftiger muß diese Naturkraft auf die eingebornen Kinder der Wildniß wirken!

Vor bald zwanzig Jahren entwickelte Dr. J. R. Burckhardt mit seltener Gelehrsamkeit seine Ansichten, daß diese unsere Wildniß bei Weitem nicht so frühe bevölkert worden sei, wie Gilg Tschudi 1560 in seiner „vralten Alpischen Rhetia" (Archiv f. schweiz. G. IV, 187) uns wollte glauben machen.

Verflossenes Jahr lasen wir in L. Wurstemberger's alter Landschaft Bern I, 315, 7: „Der Gedanke, daß die Alpenländer bis in die Zeit des heil. Gallus herab eine menschenleere Wüste geblieben seien, hat keine Wahrscheinlichkeit für sich."

Die Frage: wann sind die ersten Menschen in unsere Wildniß eingewandert, um sich da niederzulassen? ist natürlich so leicht nicht zu beantworten, da zwölfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung im weitesten Kreise um uns noch keine Schriftzeichen und sechshundert Jahre später in unserer Wildniß noch Nichts dergleichen vorkam.

Doch bezeugen Alterthumsforschungen, die bei uns sehr langsam in Aufnahme kommen, daß unsere Bewohner in eine sehr frühe Zeit hinaufreichen.

Die mit ersten Gestaltungen unserer Erdrinde sich beschäftigende Wissenschaft wollte jüngst die ersten Menschen in die Zeit des Mammuths und seiner Genossen zurückführen, wo er bedeutungslos dastünde.

In unserer Wildniß sehen wir durch zwei sich kreuzende Hebungen die früher vulkanisch ruhige Erdrinde zu einem riesenhaften Damme aufgeftaucht, in welchem

mächtige Bruchstücke oft beinahe senkrecht auf schmaler

Kante ruhen.

Natürlicherweise war noch lange nach diesen Evolutionen, bis sich in tiefen Schluchten Thalgründe gebildet, fein lebendes Wesen in diesen schwankenden Massen denkbar; aber auch viel später, als strömende Fluthen, von jähen Wänden durch enge Thäler brausend, sich oft selbst Dämme aufftauchten und wieder einrissen, war für Menschen da kein Wohnplag, bis nach Norden die Reuß und Aare, nach Osten der Rhein, nach Süden Tessin und Aira, nach Westen die Rhone sich ein mehr geregel= tes Stromgebiet gebildet hatten.

Jahrtausende später sehen wir Nachwehen sowohl vulkanischer als neptunischer Art, indem große Gerölle und Gletscherflüsse die Thalschluchten unwohnlich machen; auch nach und nach sich abschwächende Erdbewegungen bis in die geschichtliche Zeit fortdauern. So warf im Jahre 599 der Thunsee noch seine Fische aus und die Annalen unserer alten Klöster melden häufige und heftige Erdbeben. In den Kesselthälern tobte die Fluth, je höher die Berge, um so rascher und heftiger, besonders beim Schmelzen des Schnees hoben sich die Bergseen auf großartige Weise und bildeten Auen und Ehen, Riefi, Hasli, Sand und wie diese Namen bei uns so oft uns begegnen, also noch in Zeiten, als die Halden unserer Thäler bereits bewohnt waren. Das Wort Schächaa würde für sich selbst uns erzählen, daß da in einem drei Stunden langen Thale, das mit ewigem Firn bedeckte Schneeberge begrenzen, selbst damals noch die Fluth sich nicht zu regeln vermochte, als sie einen alemannischen

Tell-Sage.

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