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der

Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien.

Philosophisch-Historische Klasse.

178. Band, 1. Abhandlung.

2 Die

Erzählungen der Odyssee.

Von

Dr. Ludwig Radermacher,

korresp. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien.

Vorgelegt in der Sitzung am 4. November 1914.

Wien, 1915.

In Kommission bei Alfred Hölder,

k. u. k. Hof- und Universitäts- Buchhändler,

Buchhändler der kais. Akademie der Wissenschaften.

Druck von Adolf Holzhausen,

k und k. Hof- und Universitäts-Buchdrucker in Wien.

AS
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V676

v. 178 pt. 1

Der Name Märchendichtung hat sich für die Odyssee heute ziemlich eingebürgert und läuft Gefahr, zum Schlagwort zu werden; es ist aber eine alte Erfahrung, daß Schlagworte dem Nachdenken und Nachprüfen gefährlich werden können, weil man sich nicht ohne weiteres verpflichtet fühlt, Ergebnisse, die als so gesichert gelten, daß sie eine feste Formulierung gefunden haben, immer wieder von neuem anzupacken und auf ihre Standfestigkeit zu untersuchen. Und doch, wenn die Erkenntnis richtig ist, daß die Odyssee sich in Märchen auflösen läßt, wie weit entfernt uns diese Einsicht dann von dem Standpunkte der Alten! Für sie war die Dichtung der Ausgangspunkt alles geographischen Wissens; sie haben also in ihr eine Realität bewundert, die sich sogar wissenschaftlich fassen und verwerten ließ. Doch gibt es auch noch heutzutage Gelehrte, die den Palast des Odysseus mit dem Spaten zu finden hoffen, und der Streit um die Frage, wo die von dem homerischen Sänger geschilderten Örtlichkeiten der Irrfahrt liegen, wird wohl auch nach Bérard nicht zu Ende gelangen. Genau genommen stoßen wir also auf zwei grundverschiedene Auffassungen von dem Wesen des Epos, die sich aber sofort miteinander vereinen lassen, sobald wir begreifen, daß sich in dieser Dichtung Wirklichkeit und Phantasie ebenso natürlich wie innig verbinden. Aber das phantastische Element sind nicht nur Märchen. Eine genaue Untersuchung der Motive läßt vielmehr die Vermutung begründet erscheinen, daß hinter dem Epos eine reich blühende und vielseitig gegliederte Erzählungsliteratur gestanden haben muß, neben Sage und Märchen auch heilige Legende und Novelle bereits entwickelt waren. Wir wollen versuchen, dieser Anschauung zu ihrem Rechte zu verhelfen und wollen dabei zeigen, daß eine motivische Analyse

für die Erkenntnis des Aufbaues und vielleicht auch der Entstehung des Gedichtes von Wert sein kann.

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Am echtesten und treuesten in der Form sind die Züge eines Märchens wohl in der Erzählung von Kirke erhalten geblieben. In einem mythischen Ostland, das von den ersten Strahlen der Sonne getroffen wird, wohnt die Zauberin, eine gewaltige, stimmbegabte Göttin, die leibliche Schwester des Aietes, eine Tochter des Helios und der Perse. Der Rauch ihres Palastes dringt durch dichte Eichenwälder zu Odysseus. Gefährten werden ausgeschickt, das Land und seine Bewohner zu erkunden, und sie finden in einer Waldschlucht den Steinpalast, rund herum Wölfe und Löwen, die im Grunde verwandelte Menschen waren. Ich hebe diese Züge heraus, weil sie das Lokal, in dem eine Hexe waltet, recht lebendig schildern, und zwar nicht viel anders, als es das deutsche Märchen tut. Ein Hauptstück aller Zauberkraft ist aber das Verwandeln. der Gestalt noch heute im Volksglauben geblieben, zunächst soweit der eigene Körper in Frage kommt, dann als Schadenzauber, den man gegen Fremde übt. Unter den Mitteln, die dienlich sind, erscheint in erster Linie eine Salbe, daneben eine Rute oder ein Stab, den ja auch Athene gebraucht, um Odysseus zu verjüngen. Kirke reicht den Gefährten des Odysseus außerdem einen Trank, der bei ihnen ein vollkommenes Vergessen der Heimat bewirkt. Möglicherweise ist dieses Vergessen nur ein Ausdruck der Tatsache, daß jenes Mittel den Unglücklichen die Besinnung überhaupt und damit die Fähigkeit raubte, sich ihres früheren Zustandes zu erinnern. So ist es wenigstens in einem Märchen, das den Kern der apokryphen Acta der Apostel Andreas und Matthias bildet. 3 Da gibt der Menschenfresser seinen Gefangenen einen Trank, der ihnen den Verstand benimmt, so daß sie sich für Tiere halten und ruhig in einen Stall einsperren lassen und das vor

1 S. z. B. Wuttke, Volksaberglaube 217.

2 Schönwerth, Aus der Oberpfalz II 110.

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Vgl. S. Reinach, Les Apôtres chez les anthropophages, Cultes, mythes et religions I S. 407.

geworfene Gras verzehren. Das Motiv, das Irrsinn an den Genuß einer bestimmten Speise knüpft, ist ziemlich weit verbreitet. Man hat an eine Episode des Sindbadromans erinnert, die bei einem Äthiopierfürsten spielt und ganz die gleichen Voraussetzungen und Konsequenzen hat wie die Matthiaslegende. 1 Aus neuerer Zeit stammt ein Bericht von Hermann Göhausen im Processus iuridicus contra sagas et veneficas 2 (Rinteln 1630), in dem behauptet wird, ein fünfzehnjähriger ,Bawersbub sei durch Genuß von Katzenhirn wahnsinnig geworden. Die in Schweine verwandelten Genossen des Odysseus müssen sich auch als solche fühlen, und dazu könnte der gereichte Zaubertrank dienen. Es paẞt sehr gut, wenn nachher betont wird, daß sie ihren Herrn und Meister erst wieder erkannten, nachdem sie zurückverwandelt waren. Freilich heißt es an anderer Stelle ausdrücklich, ihr Verstand sei unversehrt geblieben. Darin liegt ein gewisser Widerspruch, der sich vielleicht so erklärt, daß das Motiv des Zaubertranks ursprünglich in anderem Zusammenhang stand und mit der Verwandlung nichts zu schaffen hatte. Solch ein möglicher Zusammenhang wird sich im Laufe der Untersuchung noch erschließen. Dagegen gehört das põlv, die Zauberwurzel, mit der sich Odysseus gegen die Künste seiner Feindin schützt, zweifellos noch zum Hexenaberglauben. Es ist weiter nichts als eine besondere Form des Amuletts. Auch die Formel, die Kirke spricht, als sie die Gefährten des Odysseus verwandelt, ist stilgemäß.5

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Lehrreich ist ferner die Genealogie der Kirke. Sie ist als Schwester des Aietes eine nahe Verwandte der Medea, die ja gleichfalls eine Hexe war und die mannigfachsten Künste zu üben verstand. Der griechische Mythus kennt der Zauberinnen

1 Tausend und eine Nacht VI 137 (trad. Mardrus). Vgl. Reinach a. a. O. S. 407.

2 Ich entnehme die Nachricht den Grenzboten 1908 S. 134. Glaukos wird, wie antike Legende erzählt (Athenaios 297 a), nach Genuß eines Krautes Evos und springt ins Meer. Ino, die sich ins Meer stürzt, heißt dagegen wahnsinnig. Evdovouαopós und Wahnsinn sind nahe verwandt. 3 Od. x 397.

4 αὐτὰρ νοῦς ἦν ἔμπεδος ὡς τὸ πάρος περ.

5 Siehe den Leydener Zauberpapyrus II p. 103, 7.

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