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DES

CLASSISCHEN ALTERTHUMS.

AKADEMISCHE ABHANDLUNGEN

VON

ERNST VON LASAULX.

Τὴν σαυτοῦ φρένα τέρπε· δυςηλεγέων δὲ πολιτῶν
ἄλλος τίς σε κακῶς, ἄλλος ἄμεινον ἐρεῖ.
Mimnermus Fr. 7.

MIT EINEM ANHANGE POLITISCHEN INHALTES.

REGENSBURG 1854.

VERLAG VON G. JOSEPH MANZ.

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SEINEM FREUNDE

CHARLES LETELLIER IN ROM

ERNST VON LASAULX IN MÜNCHEN.

So die Zeit verfliesset als das Wasser und des Menschen
Gedächtnis vergeht mit der Glocken Ton, also hab ich Jacob
Unrest in meiner Einfalt gedacht, was in Schrift kommt, bleibt
länger.

Alte Chronik von Österreich in Hahn's Collectio
monumentorum I, 781.

Lieber Bruder, Die Abhandlungen, welche ich hier gesammelt und so viel ich vermochte bereichert dir vorlege, sind grossentheils aus Vorlesungen entstanden, die ich über das Griechische und Römische Alterthum während meiner akademischen Lehrthätigkeit gehalten habe. Ihr Gegenstand hat mir lebhaftes Interesse eingeflösst, ihre Ausarbeitung Mühe und Freude gewährt; es ist darum natürlich, dass die Lust und Liebe aus der sie entstanden sind, auch theilnehmende Freunde miterfreue. Das Materiale, dessen noch für ein duzend andere vorhanden wäre, habe ich mir seit meiner Schulzeit aus einer umfassenden Lectüre der alten Schriftsteller gesammelt, zu der mich meine Lehrer Christian Schlosser und Carl Ruckstuhl, mit Hinweisung auf das Vorbild des Tiberius Hemsterhuis, angeleitet haben. Leider aber habe ich ihren Rath, alle alten Schriftsteller nach der Ordnung der Zeit im Zusammenhange zu lesen, und für jene Seite des Alterthums, deren Erkenntnis mich vorzugsweise interessire, sorgfältig zu excerpiren, nicht genau befolgt; äussere Umstände und in jüngeren Jahren ein gewisser desultorischer Übermuth haben jenes planmässige Studium vielfach durchkreuzt, so dass es mir bis zur Stunde nicht gelungen ist, alle erhaltenen Schriftwerke des Alterthums vollständig zu bewältigen. Ich muss daher die Lösung dieser wie anderer Aufgaben meines Lebens entweder

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einer späteren Rückkehr in diese Welt vorbehalten, oder jüngeren und glücklicher organisirten Naturen überlassen. Wer den Weg ernstlich gienge und nicht blos mit den sinnlichen Augen läse, sondern was ihm Denkwürdiges begegnete auch geistig miterlebte und verarbeitete, dem müsste sich auf demselben auch die höhere Bedeutung der Philologie als Philosophie der Geschichte ergeben. Denn er würde in der Entwicklungsgeschichte des Griechischen und Römischen Lebens nicht blos dieses, sondern den Naturgang menschlicher Völkerentwicklung überhaupt erkennen; es würde ihm, wenn er sähe wie die Dinge geworden sind und wie sie innerlich zusammenhängen, die Vergangenheit, die wir meist als eine uns fremde in sich abgeschlossene betrachten, warm und hell vor die Seele treten als ein Bestandtheil unseres eigenen Daseins, ein Entwicklungsmoment des Ganzen von dem wir selbst ein Theil sind. Auch würde er dabei (kein kleiner Gewinn für einen heutigen Menschen), wenn er zwei ganze Völkerleben in sich nachempfunden mit all ihren Freuden und Leiden, und das Bleibende wie das Vergängliche in allen menschlichen Dingen erkannt hätte, die Leiden der heutigen Weltlage, die grösseren des Vaterlandes und die kleineren seines eigenen Hauses, wenn auch nicht leichter, doch gefasster und ergebener zu ertragen, und den Kopf über den Wassern zu halten erlernen.

An der Hand der alten Sprachen und ihrer Litteratur können wir das Leben der Griechen und Römer ununterbrochen von den ersten Regungen seiner nationalen Existenz bis zum Erlöschen derselben verfolgen, durch einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden. Wir können hier erstlich den Entwicklungsgang der Sprachen erkennen, wie sie an allen grossen Schicksalen ihrer Völker theilgenommen, sich in jedem Jahrhundert verändert haben, wie sie gewachsen, ihren Höhepunkt erreicht, gesunken und allmälig abgestorben sind; können beobachten, in welcher Periode hier die wissenschaftliche Sprachforschung, Grammatik, Kritik, Lexikographie auftreten: nemlich im Beginne des sinkenden nationalen Lebens, bei den Griechen in der Alexandrinischen Zeit, in Rom in den lezten Tagen der Republik und im Beginne der Kaiserherschaft und können darüber nachdenken, welche Anwendung dies auf unsere Zeit gestatte? ob etwa auch hier, auf dem Gebiete der Sprachentwicklung, wie überall die Jugend in der Zukunft, das Alter in der Vergangenheit lebe, die eine am Anfang der Reise frisch vor sich hin in das weite Leben schaue, das andere am Ende derselben den zurückgelegten Weg zu überdenken liebe? Wir können

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hier ferner den natürlichen Entwicklungsgang des religiösen Bewusstseins erkennen: dass so lange dieses warm, das Volksleben von ihm getragen im Wachsen begriffen ist, und wenn es erkaltet, mit ihm zerfällt; können beobachten in welchem Verhältnis die Philosophie, die sporadische und die epidemische, zur Religion stehe; wie das sociale und das politische Leben sich entwickelt habe und der Kreislauf der Verfassungsformen; wie die Künste entstanden sind, die bildenden und die redenden, und in welchem Verhältnis sie stehen zu dem jeweiligen Gemeingefühl der Zeit und des ganzen Volkslebens, was sie erzeugt hat und welche Schlüsse sich aus dem allen für die richtige Erkenntnis unseres eigenen heutigen deutschen Lebens ziehen lassen? Denn alle Erkenntnis eines fremden Lebens wäre werthlos, wenn wir daraus für die Erkenntnis und Besserung des eigenen nichts lernten; wenn durch das wiederholte Mitempfinden der grossen Leidenschaften des Alterthums nicht die kleinen unseres eigenen Herzens gereinigt würden; wenn das Nachdenken der grossen und ursprünglichen Gedanken der früheren Menschheit unsere eigene Denkungsart zu erheben und zu stärken nicht vermöchte; wenn das Zusammenleben mit den starken und freien Charakteren des Alterthums auf die Bildung unseres eigenen Charakters keinen Einfluss hätte.

Die religionsphilosophischen Ideen, welche meinen Abhandlungen zu Grunde liegen, sind dir aus unseren Gesprächen unter den Ruinen Roms bekannt; sie sind in mir zuerst angeregt worden durch die Schriften des Grafen Joseph de Maistre, und durch die Vorlesungen meines unvergesslichen Lehrers F. W. J. von Schelling über Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, und haben sich mir bewährt und theilweise berichtigt durch den ganzen Gang meines Lebens und meiner Studien. Sie haben unter den deutschen Philologen vielfachen Widerspruch erfahren, der mich aber nicht veranlasst hat, etwas davon aufzugeben; doch habe ich mich überall bemüht, den objectiv überlieferten Thatbestand möglichst unabhängig von meiner subjectiven Auffassung darzustellen, und bin mir bewusst, dieses bei den Gegenständen, die hier behandelt sind, auch vollständiger und genauer als andere gethan zu haben 1. Das Gebiet der

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In den deutschen Abhandlungen hat fast jede Seite Zusäze erhalten; die dritte, fünfte, neunte und zehnte (der Reihenfolge in der sie hier erscheinen), sind etwa auf das doppelte ihres ursprünglichen Umfanges erweitert worden; in dem Texte der politischen Aufsäze habe ich mir nur einige stylistische Änderungen erlaubt.

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